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Aufregende Entdeckung nach 500 Jahren
Dieser berühmte Ritter war wohl eine Frau – und damit kein Einzelfall

Öffnung der Kupferschatulle mit den Gebeinen des Skeletts von 1968 während der
Exhumierung 2016.
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Ulrich von Hutten (1488–1523), der streitbare Ritter und wortgewaltige Humanist, polarisierte und irritierte die Menschen zu Lebzeiten und gibt bis heute Rätsel auf. Möglicherweise das grösste vor nicht allzu langer Zeit in einem Labor am Institut für Evolutionäre Medizin der Universität Zürich.

Dort öffnete der Anthropologe und Mediziner Martin Häusler den kleinen Kupfersarg, in dem ein Skelett lag, das Hutten zugeschrieben wurde. An seiner Seite hatte er ein interdisziplinär zusammengesetztes Team.

Ulrich von Hutten starb heute vor 500 Jahren, am 29. August 1523, auf der Insel Ufenau, die mitten im Zürichsee liegt. Er kam dorthin auf Fürsprache Zwinglis, der Mitleid hatte mit dem von Syphilis geplagten zierlichen Mann, der mit spitzer Feder und dem Schwert gegen den Papst und die «Pfaffen» kämpfte. 

Zeitgenössischer Holzschnitt von Hans Baldung Grien (1521), der Ulrich von Hutten als Ritter und Poet zeigt.

Ulrich von Hutten starb bettelarm und wurde auf dem Friedhof der Kirche St. Peter und Paul auf der Ufenau beigesetzt. Von letzter Ruhe kann aber keine Rede sein. Wenigstens was seine Wirkung und seine sterblichen Überreste betrifft.

Denn als nach der Französischen Revolution das von Patriotismus ergriffene deutsche Bildungsbürgertum die Vergangenheit nach geeigneten Helden durchsuchte, stiess es auf Ulrich von Hutten. Dieser kämpfte tatsächlich nicht nur gegen Kirche und Papsttum, sondern auch für ein starkes und einiges Deutsches Reich. Hutten wurde nun zum ersten Reichsritter heraufstilisiert.

Seine Schriften wurden neu herausgegeben, Goethe und Heine beschäftigten sich mit ihm. 1824 malte der Frühromantiker Caspar David Friedrich das Ölgemälde «Huttens Grab», das ferner von der Realität auf der Insel Ufenau kaum sein könnte.

So stellte sich Caspar David Friedrich 1823 Huttens Grab vor.
Mönch am offenen Grab bei der ersten Exhumierung (1958).

1871 schrieb Conrad Ferdinand Meyer sein berühmtes Versepos «Huttens letzte Tage», das mit den Worten beginnt:
Schiffer! Wie nennst du dort im Wellenblau
das Eiland? – «Herr, es ist die Ufenau!»

Von Hitler verehrt

Bereits kurz nach seinem Tod setzte eine Wallfahrt zu Ulrich von Huttens Grab ein. Allerdings nahm der Kult seit dem Zweiten Weltkrieg inhaltlich unerträgliche Züge an, denn die Nationalsozialisten missbrauchten Hutten für ihre Ideologie. So wurde eine Infanteriedivision der deutschen Wehrmacht nach ihm benannt, und Adolf Hitler wollte ein Schlachtschiff auf seinen Namen taufen lassen.

Auch Huttens sterbliche Überreste fanden keine Ruhe: 1958 stiessen Arbeiter bei einem Umbau der Kirche St. Peter und Paul auf ein Skelett, das ein Kunsthistoriker als dasjenige von Ulrich von Hutten bezeichnete. Es wurde daraufhin feierlich und in Anwesenheit von Nachkommen Huttens wieder beigesetzt.

Beisetzung des ersten Hutten zugeschriebenen Skeletts. Vorn Karl Ulrich Freiherr von Hutten, neben ihm seine beiden Töchter.

Dem renommierten Zürcher Anthropologe Erik Hug, der 1958 als Gutachter beigezogen worden war, liess allerdings die Tatsache, dass das Skelett keinerlei Spuren der Syphilis aufwies, keine Ruhe. So kehrte er 1968 auf die Ufenau zurück, um das Areal des ehemaligen Friedhofs systematisch abzusuchen. Unweit der früheren Fundstelle traf er auf ein zweites Skelett.

So wurde das erste Skelett auf der Ufenau gefunden, das zweite, das heute Hutten zugeschrieben wird, lag unweit davon.

Bei diesem zweiten Skelett passte alles. Insbesondere zeigten die Knochen exakt dort Verdickungen und Deformationen, wo Hutten über Schmerzen und eiternde Wunden klagte. Er hatte nämlich seine Krankheitssymptome 1519 in einer Schrift detailliert beschrieben. Kein Zweifel, das zweite Skelett sei dasjenige von Ulrich von Hutten, erklärte nun Hug. So wurde 1970 dieses zweite Skelett neben dem ersten und mit weniger Brimborium beigesetzt.

Im Labor von Erik Hug, der den Schädel der Skelette mit den zeitgenössischen Holzschnitten verglich.

Im Herbst 2016, als das Inselrestaurant renoviert wurde und deshalb keine öffentlichen Schiffe auf der Ufenau landeten, wurden beide Skelette nochmals exhumiert. Martin Häusler und sein Team hatten darum gebeten, denn dank modernen, interdisziplinären Analysemethoden werden vielerorts bisher nicht eindeutig identifizierte Skelette neu untersucht.

Für seine erste Erkenntnis brauchten die Fachleute allerdings lediglich ihre Augen und ihre Erfahrung. Als sie den Sarg öffneten, war ihnen schnell klar: Das zweite Skelett stammt von einer Frau. «Die Beckenknochen und verschiedene Merkmale des Schädels lassen nur diesen Schluss zu», sagt Häusler, der seit 2013 die Gruppe «Evolutionäre Morphologie und Anpassung» leitet und zuvor am Institut für Rechtsmedizin in Zürich tätig war. Dieser Befund wurde später durch drei verschiedene genetische Analysemethoden verifiziert.

«Abgesehen vom Geschlecht, spricht sehr viel dafür, dass es sich um das Skelett von Ulrich von Hutten handelt.»

Martin Häusler

Das zweite Skelett gehört also zu einer Frau – handelt es sich demnach nicht um die Überreste von Ulrich von Hutten? Häusler erwidert: «Abgesehen vom Geschlecht, spricht sehr viel dafür, dass es sich um das Skelett von Ulrich von Hutten handelt.» Dann zählt er auf, was die neusten Untersuchungen ergeben haben. Zum Beispiel:

Die Krankheitssymptome

Die pathologische Untersuchung des Skeletts stimmt grösstenteils mit den von Ulrich von Hutten beschriebenen Erkrankungen überein. Dies betrifft Veränderungen an den Schien- und Wadenbeinen, am linken Oberschenkel sowie an der rechten Elle und weiteren vier Stellen.

Zeichnung des Skeletts, auf der Erik Hug jene Stellen markiert hat, wo Deformationen mit dem Krankheitsbild übereinstimmen.

Häusler und seine Mitautoren und Mitautorinnen beschreiben diese in einem eben erschienenen Paper und einer auf der Website der Universität Zürich aufgeschalteten Zusammenfassung sowie der Masterarbeit von Antoinette Goujon von 2022 detailliert. Zudem konnte in den krankhaft veränderten Knochen die DNA eines nahen Verwandten des Syphiliserregers nachgewiesen werden.

Die Herkunft

Die Untersuchung der chemischen Zusammensetzung der Zähne lässt Rückschlüsse auf die Umwelt der Kindheit zu. Diese Analyse ergab folgende Resultate: Beim ersten Skelett handelt es sich um eine einheimische Person. Das zweite Skelett, also das weibliche, gehört zu einem Individuum, das weit nördlich der Schweiz im mittleren Deutschland aufgewachsen sein muss. Ulrich von Hutten wurde auf der Burg Steckelberg bei Schlüchtern geboren. Schlüchtern liegt im Südosten Hessens.

Der Zeitraum

Die Radiokarbondatierung (14C) gibt für beide Skelette etwas zu frühe Werte an. Was allerdings laut Häusler nicht erstaunt, da dies bei Menschen, die sich in ihren letzten Jahren fischreich ernährten, möglich ist. Fische lagern je nach Gewässer viel uraltes CO₂ aus gelöstem Kalk ein. Dieses gelangt durch die Nahrung auch in die Knochen der Menschen und beeinfluss damit die C-Werte.

Häusler hält fest: «Die14C-Datierung beider Ufenau-Skelette ist mit den Lebensdaten Ulrichs von Hutten kompatibel.»

Sterbealter und Grösse

Auch die Ergebnisse der verschiedenen Methoden zur Bestimmung des Sterbealters passen: Mitte dreissig. Ebenso die Grösse  – 145 cm, denn Hutten wurde mehrfach als von kleiner Statur beschrieben. Bleibt «das Problem», dass es sich um eine biologische Frau handelt.

Auch Paracelsus-Skelett ist weiblich

Martin Häusler sagt: «So aussergewöhnlich ist das nicht. Ulrich von Hutten wäre damit kein Einzelfall im Spätmittelalter.» Und es folgt gleich die nächste verblüffende Aussage: «Auch das Skelett von Paracelsus ist weiblich.» Dies ergab 1994 eine wenig bekannte Untersuchung des österreichischen Rechtsmediziners Herbert Kritscher. Bei Paracelsus (1493/1494–1541) sind die weiblichen Merkmale am Schädel allerdings weniger ausgeprägt als bei Huttens Skelett.

Crossdressing im Spätmittelalter?

Kleideten sich demnach Hutten und Paracelsus als Mann, weil sie als streitbare Reformerin beziehungsweise als Wissenschaftlerin und Ärztin nicht akzeptiert worden wären? Ein Fall von Crossdressing im Spätmittelalter?

Häusler hat eine andere These. Er vermutet, dass es sich zumindest bei dem von ihm detailliert untersuchten Ulrich von Hutten um einen Fall des Adrenogenitalen Syndrom (AGS) handeln könnte. Darunter versteht man eine angeborene Störung der Hormonbildung der Nebennierenrinde, die bei weiblichen Kindern zu einer gewissen Vermännlichung führt.

«Ulrich von Hutten war wohl nicht bewusst, dass er eine Frau ist.»

Martin Häusler

Je nach Ausprägung gehört eine stark vergrösserte Klitoris zu den Symptomen, die als sehr kleiner Penis interpretiert werden kann. Zudem bleibt nicht selten die Regelblutung aus. Häusler geht daher davon aus, dass Ulrich von Hutten nicht bewusst war, dass er eine Frau ist. «Er spürte aber bestimmt, dass irgendetwas mit ihm als Mann nicht stimmte.»

Für diese These spricht auch der ungewöhnliche Umstand, dass die Eltern Ulrich von Hutten mit elf Jahren ins Kloster Fulda brachten, wo er als Mönch leben sollte. Dies, obwohl er der Erstgeborene war. Als Grund galt, dass er von schwächlicher Konstitution war.

Nun ist die Genealogie gefragt

Ob das weibliche Ufenau-Skelett tatsächlich dem von späteren Generationen als heldenhafter «Deutscher Ritter» verehrten Ulrich von Hutten zugehört, würde ein DNA-Abgleich mit näheren Verwandten abschliessend beantworten. Das gestaltet sich allerdings ziemlich schwierig, denn die heute noch lebenden Huttens sind lediglich über 36 Generationen mit Ulrich von Hutten verwandt. Das lässt keine Rückschlüsse mehr zu.

Hoffnungsvoller für Stammbaumabklärungen sind Nachkommen mütterlicherseits. Dann könnte man, wie Häusler ausführt, die mitochondriale DNA vergleichen, die aus der Eizelle der Mutter stammt und sich nicht mit dem väterlichen Erbgut vermischt. Doch solche Nachkommen sind von Ulrich von Hutten bisher nicht bekannt. Häusler sagt daher: «Nun ist also die Genealogie gefragt.»

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