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Arbeitsökonom im Interview
«Künstliche Intelligenz wird die Ungleichheit verringern»

Portrait von David Autor im NOMIS STIFTUNG Gebaude. 03.10.23
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Herr Autor, die meisten Experten gingen davon aus, dass die Pandemie die weniger Gebildeten am härtesten trifft. Sie haben das untersucht und kamen zu überraschenden Ergebnissen.

Während der Pandemie traf es die weniger Gebildeten mit Sicherheit härter. Die Menschen, die persönliche Dienstleistungen und schlecht bezahlte Arbeit verrichteten, verloren in viel grösserer Zahl ihren Arbeitsplatz. Aber die Überraschung war, dass sich nach der Pandemie der Arbeitsmarkt verbesserte, viel schneller als erwartet und viel stärker für die weniger gebildeten Menschen.

Warum?

Die Arbeitgeber mussten plötzlich viel stärker um die Einstellung von Arbeitnehmern konkurrieren, als die Wirtschaft wieder anzog. Viele Arbeitnehmer wollten nicht zurück in schlechte oder schlecht bezahlte Jobs. Dazu kommt, dass die Bevölkerung altert. Die wenigen jungen Leute, die nach und nach in den Arbeitsmarkt eintreten, schaffen einen viel wettbewerbsfähigeren Arbeitsmarkt.

Der Markt sorgte also für höhere Löhne?

In einem konventionellen wirtschaftlichen Rahmen stehen die Dinge immer im Wettbewerb, Angebot und Nachfrage bestimmen den Lohn, und der Markt ist immer im Gleichgewicht. Aber das ist sehr stilisiert und unrealistisch. In der realen Welt hat der Arbeitgeber eine gewisse Marktmacht. Es kündigen nicht alle, wenn er den Lohn um einen Franken senkt. Und wenn er ihn um einen Franken erhöht, stehen die Leute nicht Schlange für einen Job. Das bedeutet, dass die Arbeitnehmenden nicht unbedingt so bezahlt werden, wie sie produktiv sind.

Und das hat sich nach der Pandemie verändert?

Die Arbeitgeber mussten aggressiver um Arbeitnehmer konkurrieren. Damit steigen die Löhne im Allgemeinen. Zum Zweiten wird viel häufiger der Arbeitsplatz gewechselt. Und drittens wachsen produktivere Arbeitgeber und weniger produktive schrumpfen. Das ist nicht gut für die Arbeitgeber, aber gut für die Arbeitnehmer und für die Produktivität.

Hat Sie das selbst auch überrascht?

Ja. Das hatte ich nicht erwartet. Aber die Löhne der weniger gut bezahlten Leute stiegen im Vergleich stärker und schneller als die Inflation.

«Die Ungleichheit nimmt schon so lange zu, dass man denkt, es sei ein Naturgesetz. Aber das ist eindeutig nicht wahr.»

Die Ungleichheit hat also abgenommen?

In den USA ist die Ungleichheit in den letzten vierzig Jahren um ein Drittel gestiegen, nach der Pandemie ist sie um ein Viertel davon geschrumpft. Das ist eine sehr grosse Veränderung.

Glauben Sie, dass sich dies fortsetzen wird?

Es wird sich nicht weiter beschleunigen, aber ich glaube, wir können das Niveau halten.

Warum?

Aus demografischen Gründen. Es gibt einen Mangel an jungen Menschen und auch einen Mangel an Arbeitskräften, die nicht studieren. Also Leute, die handwerklich arbeiten können, Spengler, Elektriker, Bauarbeiter, Leute, die Dinge reparieren können, aber auch Leute, die in Hotels und Restaurants arbeiten.

Ist das nur ein US-amerikanisches Phänomen?

Nein, es ist auch in Europa ziemlich ausgeprägt.

Was ziehen Sie für Lehren daraus?

Die Ungleichheit nimmt schon so lange zu, dass man denkt, es sei ein Naturgesetz, so wie Wasser bergab fliesst. Aber das ist eindeutig nicht wahr. Wenn man davon ausgeht, dass es im Arbeitsmarkt zu wenig Wettbewerb gibt, dann sollten wir darüber nachdenken, wie wir mehr Wettbewerb schaffen können.

Was schlagen Sie vor?

Eine Sache sind Mindestlohnvorschriften. Sie hindern die Arbeitgeber daran, Marktmacht auszuüben. Ausserdem kann man gegen Arbeitgeber vorgehen, die sich absprechen, um den Wettbewerb einzuschränken. Zum Beispiel in den Franchise-Unternehmen in den Vereinigten Staaten.

McDonald’s zum Beispiel?

Ja. Allein McDonald’s hat Hunderttausende von Angestellten. Wenn die also die Löhne drücken, ist das eine wirklich grosse Sache. In vielen Verträgen stand, dass sie keine Mitarbeitenden von anderen Franchisenehmern einstellen dürfen. Dagegen wurde juristisch vorgegangen. Ich arbeite an einem Forschungsprojekt, um herauszufinden, was das für den Wettbewerb bedeutet.

«Wir müssen uns nicht einfach den Umständen anpassen, es gibt viele Möglichkeiten, diese zu gestalten.»

In der Schweiz klagen alle über Fachkräftemangel. Aber die Löhne steigen kaum, viel schwächer als die Inflation. Könnte mangelnder Wettbewerb die Erklärung sein?

Es würde mich nicht überraschen, wenn das auch in der Schweiz ein Problem ist, aber ich weiss es nicht genau.

Die Lehre daraus wäre also mehr Markt?

Ich bin Wirtschaftswissenschaftler. Ich glaube an die Kräfte des Marktes. Aber wir sollten den Märkten gegenüber nicht fatalistisch sein.

Das heisst?

Wir müssen uns nicht einfach den Umständen anpassen, es gibt viele Möglichkeiten, diese zu gestalten. Das gilt gerade auch für die Technologie. Wir sollten die Zukunft nicht als etwas betrachten, das wir vorhersagen können, sondern als etwas, das wir gestalten können.

Viele befürchten, dass künstliche Intelligenz viel weitreichendere Auswirkungen auf die Arbeit hat als Computer oder Roboter. Was ist so speziell an künstlicher Intelligenz?

Da muss ich etwas ausholen. Was ist der Wert der Arbeit in einer modernen Wirtschaft? Er entsteht durch Fachwissen. Fachwissen bedeutet eine Art von Wissen oder Kompetenz, die es einem ermöglicht, etwas Wertvolles zu tun. Damit Fachwissen wertvoll ist, muss es knapp sein. Wenn jeder ein Experte ist, ist niemand ein Experte. In den verschiedenen industriellen Epochen hat sich die Art des wertvollen Fachwissens enorm verändert. Der Computer hat viele Arbeitnehmende aus dem Kerngeschäft gedrängt. Sie landeten im Dienstleistungssektor – Reinigung, Sicherheit, Unterhaltung, Erholung, Transport – alles gesellschaftlich wertvolle Arbeit, die aber schlecht bezahlt wird, weil die meisten Menschen diese Arbeit erledigen können.

Und wie wirkt nun die künstliche Intelligenz?

Sie unterscheidet sich sehr von der herkömmlichen Datenverarbeitung. Der Computer ist schnell, zuverlässig und kostengünstig. Aber er kann nicht improvisieren. Er kann kein Problem lösen, mit dem er nicht gerechnet hat. Sie können Ihrem Kind beibringen, wie man addiert und multipliziert. Aber Sie können Ihrem Kind nicht erklären, wie man Fahrrad fährt. Und so gibt es viele Aufgaben, die wir tun, aber nicht genau kennen. Ein überzeugendes Argument vorbringen, einen lustigen Witz erzählen – das erfordert eine Form von Wissen, die wir als implizit oder stillschweigend bezeichnen. Solche Dinge konnten bisher nicht computerisiert werden.

Aber künstliche Intelligenz kann das?

Ja, sie sprengt diese Grenze. Sie kann stillschweigende Informationen lernen: So schreibt man einen Aufsatz. So macht man ein Argument. Computer können jetzt Dinge tun, die sie selbst lernen können. Sie können Aufgaben erledigen, die wir als kreativ bezeichnen würden, und sie können tatsächlich etwas erfinden und entdecken.

«Künstliche Intelligenz befähigt Menschen, bessere Entscheidungen zu treffen und grössere Aufgaben zu übernehmen.»

Was bedeutet das? Wer sind die Gewinner und Verlierer?

Ich masse mir nicht an, die Antwort auf diese Frage zu kennen. Aber ich habe eine Hypothese. In der reichen industrialisierten Welt ist die Kompetenz in der Entscheidungsfindung der Engpass für viele Aktivitäten. Und Entscheidungsfindung erfordert Urteilsvermögen. Das ist der Grund, warum es in den reichen Ländern so viele hoch bezahlte Leute gibt, die übermässig gefragt sind. Künstliche Intelligenz kann diese Knappheit verringern, indem sie eine Hilfe bei der Entscheidungsfindung leistet.

Und wer profitiert davon?

Das Computerzeitalter hat viele Arbeitsplätze mit mittlerem Qualifikationsniveau vernichtet und abqualifiziert. Künstliche Intelligenz kann genutzt werden, um diese Fähigkeiten wiederherzustellen und Menschen mit weniger formaler Ausbildung und Erfahrung in die Lage zu versetzen, wertvolle Aufgaben effektiver zu erledigen. Sie befähigt Menschen, bessere Entscheidungen zu treffen und Aufgaben zu übernehmen, für die sonst mehr Ausbildung und Erfahrung erforderlich wären. Künstliche Intelligenz wird die Ungleichheit verringern.

Haben Sie ein Beispiel?

In der Softwareentwicklung sehen wir das bereits. Künstliche Intelligenz macht Menschen viel effektiver beim Programmieren. Sie werden nicht nur schneller, sondern machen auch weniger Fehler. Das wird die Leute, die weniger gut sind, etwas besser machen. Wenn man ihnen ein solches Werkzeug in die Hand gibt, hebt dies das Gefälle nicht auf. Es gibt immer noch Menschen, die besser sind als andere. Aber künstliche Intelligenz verringert die Ungleichheit bei der Arbeit, bei der Produktivität der Menschen.

Das ist eine optimistische Sichtweise. Viele Leute haben diesbezüglich sehr pessimistische Vorstellungen.

Es geht nicht um Optimismus oder Pessimismus. Ich weiss nicht, ob es so kommt, wie ich das eben skizziert habe. Ich sage: Es gibt verschiedene Szenarien, und wir haben die Wahl, wofür wir künstliche Intelligenz einsetzen. Es ist eine unglaublich flexible, leistungsstarke Technologie. China hat damit das beste Überwachungssystem, das ausgefeilteste Echtzeit-Zensursystem der Welt geschaffen. Aber man kann künstliche Intelligenz für die Bildung nutzen oder um die medizinische Versorgung zu verbessern. Die Technologie gibt nicht vor, wofür sie eingesetzt werden soll.

Wie können wir beeinflussen, wie sich künstliche Intelligenz entwickelt? Was sollten wir tun?

Man kann die Dinge beeinflussen, indem man wirksame Beispiele schafft, indem man Investitionen tätigt, um künstliche Intelligenz in der Gesundheitsversorgung oder in der Bildung einzusetzen. Wir können die Entwicklung gestalten. Wenn man erfolgreiche Beispiele hervorbringt, werden andere Menschen sie übernehmen.

«Die Arbeit wird uns nicht ausgehen. Wenn schon, gehen uns die Arbeitskräfte aus.»

In Hollywood haben Drehbuchautoren gestreikt, da ging es unter anderem um den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Was halten Sie davon?

Das Problem ist, dass die künstliche Intelligenz im Grund genommen mit dem geistigen Eigentum anderer Menschen gefüttert und trainiert wird. Der Streik war besser als die Alternative, nichts zu tun. Er hat den Arbeitnehmern eine gewisse Verhandlungsmacht zurückgegeben. Sie haben zum Beispiel erreicht, dass die künstliche Intelligenz nicht dazu verwendet werden kann, neue Episoden von «Seinfeld» zu produzieren. Sie kann als Ergänzung eingesetzt werden, aber nicht für die ursprüngliche Idee. Es ist eine grosse Herausforderung, über eine Technologie zu verhandeln, die kaum existiert. Aber ich denke nicht, dass wir die Hände in den Schoss legen und sagen sollten, dass wir nichts dagegen tun können.

In der Schweiz haben wir dank der Berufslehre nicht so viele ungelernte Arbeitskräfte wie in den Vereinigten Staaten. Kann künstliche Intelligenz auch hier die Menschen befähigen kann, bessere Arbeit zu leisten?

Dieses System hat Stärken und Grenzen. Im Vergleich zu den USA ist der durchschnittliche Arbeitnehmer ohne Hochschulstudium in der Schweiz viel qualifizierter und besser ausgebildet. Das ist sehr wertvoll, führt im Allgemeinen zu höheren Löhnen und höherer Qualität. Aber es birgt Gefahren in sich. Man neigt dazu, die Regeln etwas starr zu gestalten, und das macht es schwer, das System so schnell zu ändern, wie sich die Welt verändert. Viele sind der Meinung, dass das Berufsbildungssystem zu eng gefasst ist, dass die Berufe zu spezifisch sind und dass die Menschen in diesen engen Bahnen bleiben müssen, obwohl sie eigentlich mehr tun können sollten. Es ist immer ein Kompromiss. Das US-System hat den Vorzug der Flexibilität, es ist sehr anpassungsfähig. Aber es ist überhaupt nicht sicher für die Arbeitenden.

Wir haben jetzt in der Schweiz und in anderen westlichen Ländern viele Diskussionen, dass die Arbeit viel zu ernst genommen wird, dass der Wert der Arbeit in der Gesellschaft reduziert werden muss. Sollten wir uns mehr entspannen?

Zunächst einmal möchte ich klarstellen, dass das Problem, mit dem wir in einem Industrieland konfrontiert sind, nicht darin besteht, ob es genug Arbeit geben wird. Es geht darum, welche Art von Arbeit es geben wird. Die Arbeit wird uns nicht ausgehen. Wenn schon, gehen uns die Arbeitskräfte aus. Arbeit hat einen grossen sozialen Wert. Sie gibt den Menschen Identität, Befriedigung, Gemeinschaft, Freundschaften, Status, Struktur. In Gesellschaften, in denen es nicht genug Arbeit gibt, geht es den Menschen im Allgemeinen nicht gut. Es gibt berühmte Studien über Menschen, die nicht arbeiten und denen es nicht gut geht, selbst wenn sie Geld haben. Wir unterschätzen den Wert der Arbeit.

Sie sind kein Freund des bedingungslosen Grundeinkommens?

Ich wäre sehr besorgt über eine Welt, in der wir alle materiellen Güter hätten, aber niemand arbeiten müsste. Das wäre in vielerlei Hinsicht eine problematische Welt. Die Vorzüge der Arbeit bestehen darin, dass die Menschen in einem sicheren Arbeitsverhältnis stehen, dass sie gut behandelt werden und dass sie selber Entscheidungen treffen können. Ich denke, das ist eine gute Welt.