Analyse zur MigrationskriseDie EU will eine Asylreform um fast jeden Preis
Die EU-Staaten verschärfen im Kampf gegen die Migrationskrise die Regeln. Auch in der Hoffnung, vor der Europawahl den Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Reform ist jetzt auf der Zielgeraden. Hier die wichtigsten Knackpunkte.
Den einen ist die Asylreform der EU viel zu restriktiv, den anderen dieser kleinste gemeinsame Nenner entschieden zu lax. Und dann gibt es noch Polen und Ungarn, die jede Reform blockieren würden, weil sie lieber die Krise bewirtschaften. Die Innenministerinnen und Innenminister der EU haben sich am Donnerstag auf ihre Antwort zur Migrationskrise geeinigt, wobei Italien im letzten Moment noch mit einen Vorbehalt kam und in einem nächsten Schritt nun das EU-Parlament zustimmen muss. Als Zaungast mit am Tisch für das Schengenland Schweiz war Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider.
Für die EU-Staaten drängt die Zeit mit Blick auf die Europawahlen im Juni nächsten Jahres. Die Zahl der Asylanträge könnte in diesem Jahr erstmals seit 2016 wieder eine Million überschreiten, so die Prognose der EU-Asylagentur. Rechtspopulisten quer durch Europa werfen der EU vor, im Kampf gegen die unkontrollierte Migration zu versagen.
Die Einigung um fast jeden Preis ist vor allem aus politischen Gründen wichtig. Die EU will vor den Wahlen Handlungsfähigkeit demonstrieren. Doch wird diese Reform in der Praxis auch funktionieren? Und was waren die wichtigsten Streitpunkte?
Schnellverfahren im Lager an der Aussengrenze
Umstritten war das neue Verfahren an der Aussengrenze der EU. Es soll für Asylsuchende aus Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote von unter 20 Prozent gelten. Diese beschleunigten Verfahren für Migranten mit geringer Bleibeperspektive sollen direkt an der Aussengrenze abgewickelt werden. Betroffen wären Marokkaner oder Tunesier, aber nicht Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan. Die Migranten mit geringen Chancen auf einen Asylstatus sollen in geschlossenen Camps an der Aussengrenze festgehalten werden und dort Verfahren durchlaufen, die nicht länger als drei Monate dauern sollen.
Wer abgelehnt wird, soll rasch in sein Herkunftsland abgeschoben werden. Italien, Griechenland und Spanien als Staaten an den Aussengrenzen sollen 30'000 Plätze einrichten. Bei einer Verfahrensdauer von 90 Tagen wären also 120'000 Schnellverfahren im Jahr möglich. So weit die Theorie. Selbst Staaten in Nordafrika weigern sich allerdings oft, ihre eigenen Staatsbürger zurückzunehmen. Und angesichts der aktuellen Zahlen würden die vorgesehenen Plätze nicht reichen.
Flexible Solidarität
Es ist nicht der erste Anlauf für einen Verteilschlüssel hin zu einer solidarischen Lastenteilung in der EU. Heute ist es so, dass die Staaten an den Aussengrenzen zwar zuerst mit dem Elend der Bootsflüchtlinge konfrontiert sind. Nach den geltenden Regeln sind die Frontstaaten theoretisch für alle Asylgesuche zuständig, solange Migranten nicht familiäre Beziehungen in andere EU-Länder nachweisen können. In der Praxis zieht der Grossteil der Asylsuchenden in Länder wie Deutschland, Frankreich, Österreich, Belgien oder auch die Schweiz weiter.
Neu soll jetzt «flexible Solidarität» für eine gerechtere Lastenteilung sorgen. Länder, die keine Asylbewerber übernehmen wollen, sollen zahlen. Vorgesehen ist eine Pauschale von 20'000 Euro pro Flüchtling. Länder können auch mit Personal für Asylverfahren oder Beamten für den Grenzschutz helfen. Polen und Ungarn wollen aber weder Asylbewerber aufnehmen noch zahlen. Und in der Praxis scheitert bisher jede Umverteilung daran, dass kaum jemand freiwillig nach Bulgarien oder Tschechien geht oder dort bleibt.
Krisenmechanismus mit niedrigen Standards
Die «Verordnung für Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl» ist der Vorschlag, an dem das EU-Paket von zehn Rechtstexten zuletzt noch zu scheitern drohte, bis in Berlin Bundeskanzler Olaf Scholz sich am Donnerstag über die Bedenken des grünen Koalitionspartners hinweg setzte und ein Machtwort sprach. Im Krisenfall soll es möglich sein, das beschleunigte Asylverfahren an der Grenze erheblich auszuweiten und die Standards weiter zu senken.
Im Krisenfall könnten alle Verfahren von Asylsuchenden aus Herkunftsländern bis zu einer Anerkennungsquote von 75 Prozent an der Aussengrenze abgewickelt werden. Werden Migranten wie zuletzt in Belarus instrumentalisiert und gezielt Richtung Schengenaussengrenze geschickt, könnte die EU entscheiden, alle Verfahren vor Ort durchzuführen und Asylsuchende bis zu 20 Wochen zu internieren. Die Osteuropäer haben auf diesen abschreckenden Passus gedrängt. Es braucht allerdings eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten, um den Krisenfall auszurufen.
Der Pakt mit den Herkunftsländern
Der Türkei-Deal ist das umstrittene Modell. Im Zuge der Flüchtlingskrise von 2015 hat sich die Regierung in Ankara verpflichtet, Migranten zurückzunehmen. Die Türkei hat dafür 6 Milliarden Euro zugesagt bekommen, die direkt in Hilfsprojekte wie Schulen oder in die Gesundheitsversorgung für die über drei Millionen syrischen Flüchtlinge im Land fliessen. Eine ähnliche Vereinbarung hat die EU-Kommission jetzt mit Tunesien getroffen, sie plant ebenfalls Gespräche mit Ägypten.
Die Partnerländer bekommen Geld für wirtschaftliche Entwicklung und verpflichten sich gleichzeitig, Boote mit Migranten zu stoppen oder Landsleute zurückzunehmen. Auch die legale Migration von Studierenden oder Saisonarbeitern soll erleichtert werden. Die EU will um jeden Preis den Migrationsdruck an den Aussengrenzen reduzieren. Sonst wären Auffangzentren und Verfahren dort rasch überlastet, die Asylreform Makulatur. Brüssel ist dafür auch bereit, mit autoritären Präsidenten wie Recep Tayyip Erdogan oder Tunesiens Kaïs Saïed ins Geschäft zu kommen.
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