Analyse zur Entwicklung des InternetsSoziale Medien haben ihre Berechtigung verspielt
Twitter ist 2023 gestorben – zumindest dem Namen nach. Doch der Zerfall bei Social Media geht weit über das Drama hinaus, das Elon Musk angezettelt hat: Viele sehen das endgültige Ende gekommen.
Für Elon Musks Social-Media-Plattform war 2023 verheerend: Die Werbeeinnahmen brachen ein, die Nutzungsdauer ging zurück, und wichtige Organisationen zogen sich zurück, namentlich der Kanton Zürich oder auch Graubünden Tourismus. Selbst der Name ist auf der Strecke geblieben: Im Juli wurde Twitter in X umbenannt, und das ikonische Vogel-Logo verschwand.
Ob X eine Zukunft hat oder verschwinden wird, bleibt abzuwarten. Doch längst ist klar, dass der Niedergang von Twitter zu einer Zersplitterung der Social-Media-Landschaft führen wird. Es gibt zwar einige Plattformen, die Twitter noch so gern beerben würden. Zu den aussichtsreichsten zählen Threads, Bluesky und Mastodon. Doch es ist nicht absehbar, dass eine davon so viele Organisationen, Politiker, Promis und Meinungsführer wird versammeln können wie Twitter zu seinen besten Zeiten. Es findet – im besten Fall – eine Ausdifferenzierung nach Interessen und nach politischer Ausrichtung statt.
Der Abgesang auf die sozialen Medien
Doch der Zerfall von Twitter ist bloss das sichtbarste Zeichen einer Entwicklung, die viel tiefer geht. «Das Social-Media-Web, wie wir es kannten, scheint vorbei zu sein», schrieb «The New Yorker» im Oktober. Bloomberg nahm ebenfalls im Oktober den Krieg in Israel zum Anlass, ins gleiche Horn zu stossen. Und «The Atlantic» konstatierte im November: «Das Zeitalter der sozialen Medien endet», nur um das bittere Urteil nachzuschieben: «Es hätte niemals beginnen dürfen.»
Die Elegiker machen den Untergang an unterschiedlichen Beobachtungen fest. Doch bei allen schwingt Trauer über ein gebrochenes Versprechen mit: Die sozialen Medien würden reale Freundschaften digital beflügeln, aber auch zu gesellschaftlichen Veränderungen führen, hatten die Erfinder dieser globalen Marktplätze versprochen, und wir hatten von Bürgerjournalismus, Graswurzelbewegungen und dem Arabischen Frühling geschwärmt. Stattdessen haben die Tech-Unternehmen ihre Algorithmen eingesetzt, um unsere Eitelkeit, den menschlichen Narzissmus und unser Geltungsbedürfnis auszubeuten. Corona hat uns gelehrt, dass man sich in den sozialen Medien nicht vernünftig streiten kann. Der Ukraine-Krieg und dann der Hamas-Terror haben uns diese Erkenntnis doppelt und dreifach bestätigt.
Doch auch abseits der zermürbenden Debatten hat sich ein Phänomen breitgemacht, das als «Facebook Fatigue» bekannt ist, aber auch auf andere Plattformen anwendbar ist: Viele Nutzerinnen und Nutzer erleben ihre Timeline als ermüdend und frustrierend. Ein ständiger, ungeordneter Überfluss an Information, der dennoch etwas Repetitives hat. Denn auf Dauer ähneln sich die Memes und Witze, und die Erkenntnis setzt ein, dass sich immer die gleichen Leute aus dem virtuellen Freundeskreis mit den immer gleichen Postings zu Wort melden und ihre altbekannten Tricks anwenden, um ein paar Likes abzusahnen. «Facebook Fatigue» ist die Einsicht, dass die sozialen Medien kein unverbindlicher Spass, sondern Belastung bedeuten können. Diverse Studien belegen diesen Zusammenhang.
Konsumieren ist weniger anstrengend als interagieren
Und Social Media als Geschäftsmodell? Es gibt mehrere Anzeichen dafür, dass das zwar nicht völlig ausgedient hat, für die Tech-Konzerne aber stark an Bedeutung verliert. Das erste Anzeichen ist Tiktok: Die chinesische Videoplattform hat zwar eine soziale Komponente, indem Nutzerinnen und Nutzer sich gegenseitig folgen können. Im Kern ist Tiktok aber ein Broadcast-Kanal – wie eine Fernsehstation, bloss mit dem Unterschied, dass wir durch unsere Wischbewegungen und Likes Einfluss aufs Programm nehmen können. Der Vorteil liegt auf der Hand: Zu konsumieren ist weniger anstrengend als zu interagieren.
Dieser Vorteil ist bei Meta nicht unbemerkt geblieben. Im Juni hat Mark Zuckerberg bei Whatsapp die sogenannten Broadcast-Kanäle eingeführt: Die sind nicht auf Austausch, sondern auf Einwegkommunikation ausgerichtet. Sie erlauben es grossen Organisationen, Unternehmen oder auch Influencern, sich an ein grosses Publikum zu richten.
Die Empfänger der Nachrichten haben fast keine Reaktionsmöglichkeiten: Sie können Nachrichten mit Emoji versehen und an Umfragen teilnehmen, aber keine Antwort verfassen. Die erfolgreichsten dieser Kanäle erreichen Millionen von Abonnenten – Netflix USA hat mehr als 29 Millionen, Mark Zuckerberg selbst kommt auf über 16 Millionen.
Das Wettrennen um die Super-App
Diese neue Whatsapp-Funktion gibt einen deutlichen Fingerzeig, wohin die Reise geht. Eine neue Funktion namens Flows erlaubt Unternehmen, über die Chat-App die Kommunikation in bestimmte Bahnen zu leiten. Kundinnen und Kunden sollen Termine buchen, Produktkataloge durchsuchen oder Feedback übermitteln können, und die Unternehmen antworten entweder direkt oder via Chatbot.
Im September hat Whatsapp in Indien eine Bezahlmöglichkeit freigeschaltet; in Singapur und Brasilien können Unternehmen innerhalb eines Chats Dienstleistungen und Produkte verrechnen. Und es gibt ein Verifikationsprogramm für Unternehmen, das mit zusätzlichen Funktionen zum Beispiel für die Kundenberatung verbunden ist.
Whatsapp soll zu einer universellen Plattform werden, in der Nutzerinnen und Nutzer nicht nur kommunizieren, sondern auch Produkte kaufen und Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Diesen Ansatz wird auch «Everything-App» oder «Super-App» genannt. Wie attraktiv er ist, zeigt die Wechat-App, die in China zentral für Zahlungen, Onlinegeschäfte und auch den Kontakt zu Behörden geworden ist.
Mark Zuckerbergs grosse Zukunftsvision bleibt aber das Metaversum: 2021 hat er diesen virtuellen Raum angekündigt, der uns über VR-Brillen offen steht und die Zukunft seines Unternehmens Meta sichern soll. Natürlich werden zwischenmenschliche Begegnungen auch in dieser Umgebung wichtig sein. Doch wer sich das Metaversum als Social-Media-Netzwerk in 3-D vorstellt, liegt falsch: Es soll ein Ort fürs Geschäft und die Arbeit sein, in dem die professionellen – und zahlungswilligen – Teilnehmer ein grösseres Sprachrohr besitzen. Das neue Meta-Abo, das zahlende Nutzer per Algorithmus bevorzugt, gibt einen Vorgeschmack davon.
Aus heutiger Sicht zeichnet sich ab, dass der soziale Aspekt immer bloss Mittel zum Zweck war – dem mittelfristig weder die Nutzerinnen und Nutzer noch die Tech-Firmen eine Träne nachweinen werden.
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