Lebensgefährlicher MischkonsumWodka und Benzos zur Selbstmedikation
Nachdem es zu mehreren Todesfällen gekommen ist, wollte die Uni Zürich herausfinden, warum Jugendliche rezeptpflichtige Medikamente mit Alkohol mischen – und wie sie an die Pillen kommen.
«Wir waren bei einem Kollegen und haben getrunken. Dann hatten wir noch Benzos übrig und dachten: Warum nicht mal probieren?», sagt der 17-Jährige. Wir nennen ihn hier zu seinem Schutz Max. Er ist noch in der Schule und einer von gut 100 Jugendlichen, die bei der Studie «Wodka, Benzos und Co.» von Corina Salis Gross mitgemacht haben, Forschungsleiterin am Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung der Universität Zürich.
Sie weiss: «Mischkonsum von rezeptpflichtigen Medikamenten mit Alkohol und teilweise auch Cannabis ist kein Phänomen von randständigen Jugendlichen ohne Job und Ausbildung, sondern von gut integrierten teilweise noch Kindern, die bei den Eltern wohnen.» Mindestens 35 Jugendliche haben in der Schweiz in den letzten fünf Jahren durch eine tödliche Mixtur ihr Leben verloren. Salis Gross wollte herausfinden, welche Medikamente bei den Jungen am beliebtesten sind, wo sie diese erhalten – und warum sie die Pillen konsumieren.
Am meisten mixen die Jugendlichen Alkohol und Cannabis mit Beruhigungsmitteln oder angstlösenden Medikamenten, beispielsweise mit sogenannten Benzodiazepinen, kurz Benzos. 32 Prozent der befragten 14- bis 20-Jährigen gaben an, dies schon mindestens einmal getan zu haben. 24 Prozent haben zu Alkohol oder Cannabis auch schon starke opioidhaltige Husten- oder Schmerzmittel konsumiert, wie Oxycontin-Tabletten oder den codeinhaltigen Hustensirup Makatussin. 14 Prozent konsumierten Stimulanzien wie Amphetamine, 12 Prozent griffen zu Antidepressiva.
Die Kombinationen sind lebensgefährlich und können zu Herz- oder Atemstillstand führen. «Welch hohes Risiko sie dabei eingehen, ist vielen Jugendlichen nicht bewusst», sagt Salis Gross. Max sagt zwar, dass er schon viel Schlechtes über den gleichzeitigen Konsum von Alkohol und Benzos gehört habe und dass ihm das auch «ein bisschen Angst mache». «Aber aus eigener Erfahrung weiss ich, was meine Grenzen sind, und es ist auch noch nichts passiert.» Um den Überblick nicht zu verlieren, notiere er sich manchmal im Handy, wie viele Biere er schon getrunken habe. Was er gemerkt habe: dass die Benzos schnell aufs Gedächtnis schlagen und man «vieles vergisst».
Gemischt wird unter den Jugendlichen längst nicht nur zum Spass. Sondern auch zur Selbstmedikation. Über ein Drittel sagt, dass der Mischkonsum ihnen hilft, lockerer zu werden, dass sie damit ihre Ängste verlieren und besser mit Stress umgehen können. Salis Gross ist besorgt: «Offensichtlich ist die Jugend am Limit und braucht die Mixtur als Ventil, um mit den Leistungsanforderungen klarzukommen.»
Die Suchtforscherin stellt fest, dass die Hemmschwelle, Arzneimittel zu konsumieren, unter Heranwachsenden generell gesunken ist. «Diese Generation ist von Kindesalter an gewöhnt, dass Ritalin und Antidepressiva zum Alltag gehören», sagt Salis Gross. Ihre Gspänli oder auch sie selber hätten teilweise seit der Krippe Rezepte dafür. «Das kann unter anderem erklären, warum Jugendliche Medikamente zum Drink oder Joint mitmischen.»
Es fehlen aber auch die Plätze für psychologische und psychiatrische Therapien. «Weil sie sonst nirgendwo aufgefangen werden, gehen sie zum Hausarzt», sagt Salis Gross. Doch leider fehlt auch dort oft die Zeit, um die Mädchen und Buben adäquat zu begleiten. «Stattdessen erhalten sie im schlimmsten Fall eine 100er-Packung Benzos.» Sie plädiert dafür, solche Arzneimittel nur noch in enger ärztlicher Begleitung abzugeben und gemeinsam wieder abzusetzen. Und: «Wir sollten den Jugendlichen auch einen anderen Umgang mit ihren Sorgen lehren, als diese einfach mit Medikamenten wegzudröhnen.»
Doch der Trend geht in die andere Richtung. Diese Woche zeigten neue Zahlen der Gesundheitsbefragung 2022, dass der Medikamentenkonsum seit 30 Jahren kontinuierlich zunimmt. Insbesondere jener von Schmerzmitteln. Auch Max hat erlebt, wie schnell Arzneien verschrieben werden. «Ein Kollege bekommt von seinem Arzt immer wieder ein Rezept für Makatussin und kann so stets eine neue Flasche des Hustensaftes mitbringen.» Und ein weiterer Jugendlicher aus der Studie sagt: «Eine Kollegin von mir wurde Xanax verschrieben. Doch sie nimmt es nicht selbst, sondern verkauft es. Mich hat sie auch schon gefragt.»
Jugendliche müssen Risikobewusstsein entwickeln
Tatsächlich beschaffen sich die Jugendlichen die rezeptpflichtigen Medikamente vor allem untereinander. Jene, die ein Rezept haben, verticken einen Teil an Kollegen oder sie bedienen sich heimlich am Vorrat der Eltern oder Grosseltern und bringen es den Freunden mit. «Weil es rezeptpflichtige Medikamente sind, glauben manche Jugendliche, dass die Einnahme sicherer sei als die von harten Drogen», sagt Lilly Shanahan, Entwicklungspsychologin an der Universität Zürich.
Auch Musikvideos sind ein Problem, in denen die Einnahme oft verherrlicht und als cool dargestellt wird. «Wir müssen als Gesellschaft ein Interesse daran haben, Mischkonsum und nicht verschriebenen Konsum rezeptpflichtiger Medikamente zu reduzieren», sagt Shanahan. Denn sind die offiziellen Kanäle für Medikamente versiegt, besorgen sich die jungen Erwachsenen die Stoffe auf dem Schwarzmarkt, von Dealern oder übers Darknet. Und dort ist völlig unklar, was in den Pillen tatsächlich drin ist.
Sehr oft handelt es sich um Fälschungen. «In den USA wird derzeit fast überall Fentanyl mitgemischt», sagt Thilo Beck, Co-Chefarzt Psychiatrie beim Zürcher Suchtzentrum Arud. Bis jetzt sei dies hierzulande noch nicht passiert. Aber die Sorge, dass diese hochgefährliche Substanz, die etwa 120-mal so stark ist wie Morphin, auch auf den Schweizer Strassen auftaucht, ist gross. «Umso wichtiger ist es, dass sich ein Risikobewusstsein entwickelt.» Und zwar nicht nur bei den Jugendlichen, sondern auch bei der Ärzteschaft, den Lehrpersonen und den Eltern. «Vielen ist noch nicht bewusst, was da gerade passiert», sagt Beck.
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