Ausstellung Kunsthaus ZürichDer Mensch als Ratte im Laufrad der Geschichte
Das Kunsthaus Zürich stellt die fantastischen Radierungen des Zürcher Künstlers Albert Welti aus. Sie zeigen den Weg ins 20. Jahrhundert.
- Albert Welti war um 1900 bekannt für seine naturalistische Malerei, die auch im Bundeshaus zu bewundern ist.
- Seine experimentelle und fantastische Seite zeigte er in seinen Radierungen, die jetzt im Kunsthaus Zürich ausgestellt sind.
- Eines seiner grafischen Meisterwerke ist «Die Fahrt ins 20. Jahrhundert», eine satirische Fortschrittskritik.
Albert Weltis «Fahrt ins 20. Jahrhundert» ist eine meisterhafte Kritik am Mythos des Fortschritts. Ursprünglich sollte das Blatt zum Jahreswechsel 1899/1900 erscheinen. Es wurde aber wegen anderer Verpflichtungen des damals hoch im Kurs stehenden Zürcher Künstlers erst einige Monate später fertig.
Jetzt hängt es im Mittelpunkt einer kleinen, aber feinen Kabinettausstellung des Zürcher Kunsthauses, welche speziell die Druckgrafik Weltis in den Blick nimmt. Der Künstler wurde 1862 in Zürich geboren und starb 1912 in Bern. Er malte zeitlebens im Stile der altdeutschen Meister, war Schüler von Arnold Böcklin und wusste mit neueren Strömungen der Kunst, namentlich dem Impressionismus, nichts anzufangen.
Welti zwischen Tradition und Experiment
Mit seinem gediegenen, rückwärtsgewandten Naturalismus, wie er in «Bildnis der Eltern des Künstlers» und «Deutsche Landschaft» geradezu musterhaft zum Ausdruck kommt, erlangte er in der Schweiz und in Deutschland einige Berühmtheit.
Er verschönerte mit einem Glasfenster zur «Ostschweizerischen Textilindustrie» und dem Gemälde «Landsgemeinde» das Bundeshaus in Bern. Aber er war auch ein grosser Fantast, Illusionist und Satiriker, charakterliche Züge, die sich in Gemälden wie «Nebelreiter» und «Walpurgisnacht» Bahn brachen, aber vor allem in seinen Radierungen.
Unsere besondere Aufmerksamkeit beim eingangs erwähnten «Die Fahrt ins 20. Jahrhundert» verdient die Zugmaschine, die von einem Laufrad angetrieben wird, in dem sich ein seltsames Hybridwesen abstrampelt, das einem Nagetier mit menschlichem Kopf gleicht. Verbunden ist das Laufrad mit einer Walze und einem Eisenbahnwagen, auf dem sich eine dicht gepackte Gruppe von Menschen tummelt.
Die Reise führt aus einer architektonisch fest gefügten Vergangenheit auf der rechten Seite des Bildes über eine von Giganten getragene, unter der Schwere der Ereignisse durchhängende Brücke. Sie führt über einen wolkenverhangenen Abgrund, in eine dunkle, am Horizont nur leicht erhellte Zukunft.
Gesteuert wird der Zug von zwei Männern, in denen Weltis Sohn Albert Jakob 1962 in den Erinnerungen an seinen Vater die Figuren des Ahasver und Cecil J. Rhodes erkannte. Der ewige Jude Ahasver gilt in der Kunstgeschichte als Symbol für das Umherschweifende, Fremde, Nichtintegrierbare. Cecil J. Rhodes war lange Zeit der Inbegriff des erfolgreichen Unternehmers und Politikers. Seine Afrikapolitik wurde einst in Europa bewundert, heute wird sie als rassistisch und imperialistisch geächtet.
Wenn man sich die Zylinderhüte dieses Spitzenduos wegdenkt, bekommt das Blatt eine unerwartete Aktualität: Sehen wir da nicht Donald Trump und Elon Musk den Fortschrittszug, auf dem sich die Menschen streiten und prügeln, auf dem verführt und betrogen wird, in eine neue Ära steuern, deren Konturen letztlich im Dunkeln liegen?
Mehr «Luder und Hurenbüben»
Im Katalog wird ausgeführt, dass Albert Welti zu dem Blatt notiert habe, dass er auf dem Eisenbahnwagen eigentlich noch mehr «Luder und Hurenbüben» sowie mehr «Festjubel» hätte darstellen sollen. Immerhin geht bei der Fahrt in die Zukunft der Heiland nicht ganz verloren. Aber der Gekreuzigte, der bei solchen Darstellungen für Religion und Moral steht, ist in überaus prekärer Lage; er hängt kopfüber hinter der Walze des Fortschritts.
Auch wenn Weltis Radierung das Ziel der Fahrt ins 20. Jahrhundert nicht preisgibt, so macht die Zugmetapher doch deutlich, dass der Weg in die Zukunft von festen Geleisen vorgezeichnet ist, was im Grunde einen Steuermann unnötig macht. Er ist für den Künstler bloss Staffage in einem naturgegebenen Prozess und kann vielleicht Einfluss aufs Tempo nehmen.
Beleuchtet wird die Szenerie von einem Licht aus der Vergangenheit, das zwar den Fortschrittszug erhellt, nicht aber den Weg in die Zukunft. Es strömt aus einer kugelförmigen Lampe, die von einer nackten Frauenfigur gehalten wird – sie symbolisiert hier wohl die Aufklärung.
Die wilden Frauen des Albert Welti
Frauen spielen in Weltis Druckgrafik, die in der Ausstellung mit Blättern von Eugène Delacroix, Odilon Redon, Francisco de Goya, Max Klinger oder sogar Giovanni Battista Piranesi verglichen wird, eine eminente Rolle. So lässt er sie im «Walkürenritt» wie Dürer seine apokalyptischen Reiter durch die Lüfte galoppieren.
Er schickt sie im «Amazonenkampf» ebenfalls zu Pferd in eine aussichtslose, aber überaus dynamische Schlacht, bei der das Schwert eines feindlichen Kriegers die Brust einer Amazone durchbohrt. In einer lustigen Neujahrskarte sehen wir Giganten, die sich die Frauen wie Spielbälle zuwerfen.
In seinem Sittenbild mit dem Titel «Ehehafen» werden Ehe und Familie mit satirischem Unterton als Schicksal der Frau demaskiert. Da werden die Frauen wie Fische aus dem Wasser gezogen. Dann auf Booten an Land gebracht, um sie nach allen Regeln der Kunst zu domestizieren.
Wie durch ein Kaleidoskop, so schreibt Kurator Jonas Beyer im Katalog, öffnet sich eine Fülle von Szenen vor unseren Augen, die alle nur denkbaren Beziehungen zwischen Mann und Frau vorstellen. Oder um mit Weltis Sohn Albert Jakob Welti zu schliessen: An den Wänden des Kratersees spielt sich ziemlich alles ab, «was mit Liebe, Ehe und Fortpflanzung zu tun hat, während unten in der Tiefe die noch ledigen Weiblein herumschwimmen».
Bis 9.2.2025.
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