Deutschland steht aufWas frühere Massenproteste gegen rechts bewirkt haben
Die aktuelle Empörungswelle gegen Rechtsextremismus ist die vierte oder fünfte seit der Wiedervereinigung. Welche Ziele lassen sich so erreichen?
Man muss in der Geschichte ziemlich weit zurückgehen, um Tage zu finden, in denen so viele Menschen quer durch Deutschland auf die Strasse gingen wie an diesem Wochenende: in die Endzeit der DDR 1989 nämlich oder in die westdeutsche Friedensbewegung der 80er-Jahre.
In 100 Städten demonstrierten in den vergangenen Tagen mindestens eine Million Menschen gegen Rechtsextremismus und AfD: 100’000 bis 350’000 waren es allein in Berlin, 100’000 bis 250’000 in München, 80’000 bis 130’000 in Hamburg.
Empörungsbewegungen gegen rechts hat es in Deutschland seit der Wiedervereinigung immer wieder gegeben. Je nach Zählweise kann man vier oder fünf Wellen ausmachen. Was haben sie in der Vergangenheit bewirkt? Was ist von der jüngsten zu erwarten?
1992: Lichterketten gegen rechts
1991 und 1992 kam es in Rostock und Hoyerswerda zu mehrtägigen neonazistischen Pogromen gegen ausländische Arbeiter, im November 1992 in Mölln zu einem tödlichen Brandanschlag auf zwei von Türken bewohnte Häuser. Aus Protest versammelten sich kurz darauf in München 400’000 Menschen, um mit einer kilometerlangen Lichterkette gegen Neonazis zu demonstrieren. Viele weitere Städte folgten, allerdings fast nur in Westdeutschland.
Die Proteste brachten die damalige Regierung von Kanzler Helmut Kohl (CDU) in Zugzwang, die Gesetze gegen rechtsextreme Gruppen zu verschärfen. Nach einer Zählung des Berliner «Tagesspiegels» wurden in der Folge 11 neonazistische Organisationen verboten, darunter zentrale Akteure wie die Wiking-Jugend.
Im Dezember 1992 wurden gleichzeitig die Asylgesetze drastisch verschärft – als Reaktion auf die Hunderttausenden von Menschen, die damals vor den Kriegen auf dem Balkan nach Deutschland flüchteten.
2000: «Aufstand der Anständigen»
Im Oktober 2000 warfen Unbekannte Brandsätze auf eine Synagoge in Düsseldorf. Als Täter wurden Neonazis vermutet. Der damalige Kanzler Gerhard Schröder (SPD) rief zu einem «Aufstand der Anständigen» gegen Antisemitismus und rechte Gewalt auf. Grosse Demonstrationen folgten, die Medien berichteten wochenlang. Zwei Monate nach der Tat wurde bekannt, dass nicht Neonazis, sondern ein 19-jähriger Palästinenser und ein 20-jähriger Marokkaner die Brandsätze geworfen hatten, um Rache an Juden und dem Staat Israel zu üben.
Dessen ungeachtet stellten Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag 2001 einen Antrag, die Neonazi-Partei NPD zu verbieten. Der Antrag scheiterte 2003 vor dem Bundesverfassungsgericht, weil in den Führungszirkeln der NPD zu viele Spitzel des Inlandgeheimdienstes sassen.
2011 und 2018: Schock über NSU und Chemnitz
Als 2011 der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) aufflog, eine neonazistische Bande, die unerkannt zehn Jahre lang quer durch Deutschland Türken ermordet hatte, stand Deutschland über Wochen unter Schock.
Es kam zwar nicht zu Massendemonstrationen, dafür zu einem neuerlichen Antrag, die NPD zu verbieten. Das Verbot scheiterte 2017 erneut vor dem höchsten Gericht: diesmal, weil die NPD zu unbedeutend sei, um die Demokratie tatsächlich in Gefahr zu bringen.
Massendemonstrationen gab es dafür 2018 als Reaktion auf die rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz, die wiederum eine Reaktion auf den Mord eines syrischen Flüchtlings an einem Deutschen waren. Ein breites Bündnis namens «Unteilbar» rief zusammen mit Prominenten zu einer zentralen Kundgebung in Berlin auf, der 120’000 bis 240’000 Menschen folgten. In Dresden kamen im Jahr darauf 40’000 Menschen zusammen. «Unteilbar» löste sich 2022 auf.
2024: Protest gegen Deportationspläne
Fachleute sind uneins, ob der neuste Aufstand gegen rechts nur eine kurzfristige Empörungswelle ist, die bald wieder verebbt, oder der Anfang einer neuen Bewegung. Der Protestforscher Dieter Rucht sagte der «Süddeutschen Zeitung», den Protesten fehle «der klare Fokus»: Es gebe weder ein klares politisches Ziel noch einen Adressaten. «Die Erfahrung lehrt, dass sich diese breiten und diffusen Bündnisse wieder verlaufen.»
Der Extremismusforscher Andreas Zick hingegen sieht gerade in der Breite der Bewegung ein Indiz dafür, dass diese kein Strohfeuer sei. Man dürfe sie nicht nur daran messen, ob sie in die AfD hineinwirke. Ihr Ziel sei es vielmehr, «das Programm und die Ziele der Partei infrage zu stellen und die Gefahr für die Demokratie kenntlich zu machen», sagte Zick dem Evangelischen Pressedienst.
Wieder werden Verbote gefordert
An den Demonstrationen wird auch jetzt wieder die Forderung nach Verboten laut: der AfD diesmal oder einzelner ihrer Landesverbände. 1,6 Millionen Menschen haben zudem eine Petition unterzeichnet, dem AfD-Anführer Björn Höcke die Wählbarkeit zu entziehen. Diese Forderungen werden von der Politik derzeit aber mehrheitlich abgelehnt.
Aussichtsreicher wäre es, rechtsextremistische Vereine im Umfeld der AfD zu verbieten, weil das Innenministerium dies einfach verfügen könnte. Im Blick stehen etwa die AfD-Jugendorganisation Junge Alternative, der deutsche Ableger der Identitären Bewegung, das Institut des neu-rechten Höcke-Mentors Götz Kubitschek oder die Gruppe 1 Prozent.
In den Umfragen hat sich die AfD seit Aufkommen der Proteste vor zehn Tagen übrigens ohne Verluste behauptet: In ganz Deutschland steht sie mit 22 Prozent weiter auf Platz 2, im Osten mit bis zu 36 Prozent auf Platz 1.
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