Vincenz-Prozess im TickerHappiges Urteil: Gefängnisstrafe für Vincenz und seinen Partner
Das Bezirksgericht Zürich hat den ehemaligen Raiffeisen-Chef wegen Veruntreuung, ungetreuer Geschäftsbesorgung und Urkundenfälschung zu einer Freiheitsstrafe von 3,75 Jahren verurteilt. Vincenz-Anwalt Erni will Berufung einlegen.
Das Wichtigste in Kürze
Die 9. Abteilung des Bezirksgerichts Zürich unter dem Vorsitz von Richter Sebastian Aeppli hat Pierin Vincenz der mehrfachen Veruntreuung, mehrfachen qualifizierten untreuen Geschäftsbesorgung und der mehrfachen Urkundenfälschung schuldig gesprochen.
Vincenz wird zur einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Strafe soll vollzogen, die Untersuchungshaft von 106 Tagen angerechnet werden.
Vincenz-Geschäftspartner Beat Stocker wird zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.
Die Anklage hatte für die beiden Hauptbeschuldigten je sechs Jahre Freiheitsentzug gefordert. Die Verteidigung wollte einen Freispruch.
Das Urteil ist nach ersten Einschätzungen überraschend hart ausgefallen.
Vincenz-Anwalt Lorenz Erni hat bereits angekündigt, Berufung einzulegen
Überblick am Freitagmittag
Alle Vorwürfe der Staatsanwaltschaft seien unberechtigt, hält der Verteidiger des Ex-Raiffeisenchefs Pierin Vincenz am Freitag vor dem Zürcher Bezirksgericht fest. Anwalt Lorenz Erni fordert einen vollumfänglichen Freispruch.
Die Meinung von Vincenz sei in den Entscheidgremien der Raiffeisenbank und der Kreditkartenfirma Aduno natürlich wichtig und von Bedeutung gewesen, hielt der Verteidiger fest. Es sei aber verfehlt anzunehmen, dass er als CEO und Verwaltungsratspräsident «alles nach seinem Gutdünken hätte herbeiführen können».
Dies wirft die Staatsanwaltschaft Vincenz und dessen Geschäftskollegen Beat Stocker vor. Dank Schattenbeteiligungen an anderen Firmen, die sie dann gezielt durch die von ihnen beherrschten Unternehmen aufkaufen liessen, sollen sie unrechtmässige Gewinne eingestrichen haben.
Bei den Verhandlungen sei Vincenz nicht involviert gewesen, hielt demgegenüber der Verteidiger fest. Alle Entscheidungen seien in der Geschäftsleitung oder im Verwaltungsrat im Konsens und nach Abstimmung getroffen worden. «Das sind keine Abnickergremien, die Vincenz einfach gefolgt wären.»
«Erfolg schafft Neider»
Der Verteidiger hatte zu Beginn seines Plädoyers auf die beruflichen Erfolge von Vincenz hingewiesen: Ohne ihn wäre die ehemalige Bauernbank nicht zur drittgrössten Bankengruppe des Landes geworden. Und auch die Kreditkartenfirma Aduno habe er erfolgreich gelenkt.
«Erfolg schafft bekanntlich Neider», sagte der Verteidiger. Dies dürfte auch die Triebfeder für denjenigen gewesen sein, der mit seiner Verletzung des Bankkundengeheimnisses die Untersuchung in Gang gesetzt hatte.
Diese Untersuchung habe die Staatsanwaltschaft «ganz offensichtlich nicht unbeeinflusst durch die Medienberichterstattung eröffnet», sagte der Verteidiger. Die Untersuchung sei «mit selten gesehenem Verfolgungseifer» fortgeführt worden. (sda)
Die Protagonisten im Vincenz-Prozess
Und noch eine Übernahme
Jetzt geht es um die Übernahme der Eurokaution durch Aduno vom 10. November 2014.
Der Kaufpreis betrug 5,6 Millionen Franken. Die Staatsanwaltschaft behauptet, Vincenz habe sich vorgängig beteiligt. Anwalt Erni widerspricht hier: «Unser Mandat war zu keinem Moment an Eurokaution beteiligt, weder direkt noch indirekt.»
Wieder beginnt Erni mit der Frage, ob Pierin Vincenz Einfluss genommen hat.
Es trifft laut Erni zu, dass Vincenz als Verwaltungsratspräsident von Aduno dem Kauf von Eurokaution zustimmte. So wie der Rest des Verwaltungsrates.
Der Antrag zum Kauf von Eurokaution sei aber nicht von Vincenz gepusht worden, er habe keinen Einfluss genommen. Das würden Zeugen-Aussagen des Aduno-Managements zeigen. So habe Aduno-Finanzchef Conrad Auerbach ausgesagt, Vincenz hätte keinen Einfluss auf den Kaufentscheid genommen.
Dann geht es darum, ob Vincenz beteiligt war – was Anwalt Erni erneut verneint.
Zu den Anfängen des Deals: Beat Stocker und der Mitbeschuldigte Genfer Immobilienunternehmer Stéphane Barbier-Mueller wollten im Kautionsgeschäft Marktführer werden. Vincenz hatte von dieser Vision durchaus Kenntnis. Aduno spielte in den Überlegungen zunächst keine Rolle.
Am 18. September 2012 trafen sich Barbier-Mueller, Stocker, Vincenz und der Immobilienunternehmer Ferdinand Locher in Berlin: Alle sagten aus, dass Eurokaution bei dem Abendessen höchstens am Rande eine Rolle gespielt habe. Vincenz war dann laut Anwalt Erni nicht dabei, als am 26. Februar 2013 die Eckpunkte des Transaktionsvertrages besprochen wurden.
Aber am 25. Februar 2013 schrieb Stocker in einer Mail an Barbier-Mueller, dass er Vincenz als «strategischen Investor» ins Boot holen wollte.
Doch dies sei nie so realisiert worden, habe Stocker später ausgesagt. Stocker habe nur in einer Anfangsphase «quasi laut darüber nachgedacht», Vincenz an Bord zu holen.
Es gäbe keinen Beweis für eine Beteiligung von Vincenz an Eurokaution. So habe der Mitbeschuldigte Ferdinand Locher ausgesagt, dass Vincenz ihm gegenüber nie erklärt habe, er sei an Eurokaution beteiligt.
Weiterer Beleg: Laut Klage sollte Stocker seine Eurokaution über die Beteiligungsgesellschaft Reimagine abgewickelt haben. Das Vehikel hiess früher iFinance Management AG (IFM). Und daran war Vincenz zu 50 Prozent beteiligt.
Doch Vincenz sei vor dem Eurokaution-Deal bei IFM ausgestiegen. Daher habe Stocker das Vehikel auch umgetauft. Ferner habe Stocker in seiner Steuererklärung 100 Prozent der Anteile der Reimagine deklariert – was zeige, dass Vincenz tatsächlich ausgestiegen war, so Erni.
Nach der Auszahlung der Commtrain-Beteiligung hätten IFM oder Remagine keine weiteren Zahlungen an Vincenz geleistet.
Allerdings gab es eine Notiz von Stocker vom 20. August 2014: Diese ist mit «Vermögensübersicht» getitelt und darin heisst es: «EK (also Eurokaution, Anm. d. Red.) 1,5 abzüglich PV 0,5» (PV steht für Pierin Vincenz).
Das sei aber kein Beleg für eine Beteiligung: Die Notiz sei in einer Zeit entstanden, als Stocker Vinzenz Darlehen gegeben habe. Die Notiz drücke aus, dass Stocker aus seinem Eurokaution-Erlös Vincenz eine Darlehen von 500'000 Franken leisten könnte.
Erni sagt vor der Mittagspause: Die Anklage beruhe auf «Spekulation» und entbehre Belegen.
Das Who-is-who des Prozesses: Die Raiffeisen-Kartei
Der komplexe Fall Genève Crédit & Leasing
Jetzt geht es um den Fall der Leasingfirma Genève Crédit & Leasing (GCL).
Anwalt Erni bestätigt, dass Vincenz an GCL beteiligt war – aber erst 2013. Damals war die Übernahme der Konsumentenkreditfirma durch Aduno längst beschlossene Sache.
Zur Erinnerung: GCL ist der komplexeste Deal in der Vincenz-Affäre: Die Firma hatte zunächst mehrheitlich der französischen BNP Paribas gehört. Die Franzosen wollten raus, Minderheitsaktionär Stéphane Mueller-Barbier suchte einen neuen Mehrheitsaktionär, sonst hätte er seine Beteiligung abschreiben müssen.
Das Problem: GCL hatte ungültige Kreditverträge abgeschlossen, das Vertragsportfolio war also quasi wertlos. Es kam zu einem komplexen drei-Stufen-Deal: Raiffeisen gewährte einen dreistelligen Millionenkredit, um das Kreditgeschäft der GCL zu finanzieren. Zwischen GCL und Aduno gab es einen Deal, dass GCL das Altportfolio für eine Gebühr weiter bewirtschaftet und abwickelt. Drittens wurde die Übernahme von GCL durch Aduno vereinbart.
Als Belohnung für die Vermittlung bekam Stocker Aktien der GCL. Laut Anklage soll er Vincenz daran beteiligt haben für seine Dienste, dass Raiffeisen der GCL einen Kredit gewährt und Aduno die GCL übernimmt.
Sprich: Vincenz soll seinen Einfluss genutzt und eine Schattenbeteiligung bekommen haben.
Zunächst beschäftigt sich Erni mit der angeblich pflichtwidrigen Einflussnahme von Vincenz auf den Verlauf der Geschäfte.
Aduno-CEO Martin Huldi habe ausgesagt, er habe «keine Order» von Vincenz erhalten, die GCL-Übernahme voranzutreiben.
Zudem habe das gesamte Projektteam der GCL-Übernahme, bestehend aus CEO und CFO von Aduno sowie dem CEO der Aduno-Tochter Cashgate, die Transaktion befürwortet. Sprich: Aduno selbst habe die Übernahme gewollt, eine Einflussnahme durch Vincenz habe es nicht gegeben, so Erni.
Zum Kredit der Raiffeisen, das Kreditportfolio der GCL zu refinanzieren, sagt Erni: Hierbei habe Vincenz keinen Einfluss ausgeübt.
So habe der Leiter des Kreditboards, das über Grosskredite bei Raiffeisen entscheidet, ausgesagt, dass sich Vincenz «nie» in die Kreditvergabe an GCL eingemischt habe, der Prozess sei «sauber» abgelaufen.
Erni folgert: Das Kreditboard hat also aus eigenem Willen der Geschäftsleitung die Gewährung des Kredits empfohlen.
Alle Mitglieder des Geschäftsleitung von Raiffeisen hätten der Kreditvergabe zugestimmt. Es sei falsch, dass Vincenz die Geschäftsleitung dominiert habe.
Einschätzung: Letzten Punkt kann man anzweifeln, Ex-Raiffeisen-Banker berichteten stets, dass Vincenz die Raiffeisen dominierte.
Dann geht es um die Frage, ob Vincenz heimlich bei GCL beteiligt war.
Vincenz beteiligte sich in der Tat im Jahr 2013, so Verteidiger Erni. Doch die Anklage behaupte, Vincenz sei schon im Sommer 2011 davon ausgegangen, an einer GCL-Beteiligung von Stocker partizipieren zu können.
Erni: «Gab es solch eine Vereinbarung?»
Die Staatsanwaltschaft wolle dies mit zwei Mails belegen, die von Stocker an Vincenz gingen. Darin spreche Stocker von «Verhandlungen von Treuhand-Terms» – was die Klage als Angebot für eine verdeckte Gewinnbeteiligung wertet.
Vincenz habe aber nie auf diese Mail reagiert. Man könne also nicht davon ausgehen, dass mit den «Treuhand-Terms» das Angebot der Vereinbarung einer Gewinnbeteiligung von Vincenz gemeint sei. Dafür gebe es keinen Beleg.
Es gibt für Anwalt Erni also keinen Beweis, dass sich Vincenz schon vor dem Abschluss des dreistufigen GCL-Deals an dem Kreditunternehmen beteiligt hat.
Erni erklärt in der Folge, wie es zur 5-Prozent-Beteiligung von Vincenz bei GCL im Jahr 2013 kam. Die Idee sei gewesen, die verbliebende Gesellschaft quasi als Badbank für Problemkredite zu nutzen. Diese sollte die Kredite mit Gewinn abwickeln.
Diese Beteiligung habe er auch in seiner Steuererklärung deklariert – wenn auch irrtümlich bereits im Jahr 2012, wie Erni erklärt. Der Fehler habe seine Ursache darin, dass Vincenz erst Jahre später seine Steuererklärungen einreichte.
Auch in den Folgejahren gab es hier einen Fehler. So wurde bei GCL 2014 das Kapital herabgesetzt, die Aktionäre bekamen Geld ausgeschüttet. Dieses Geld habe Vincenz in seiner Erklärung aber bereits irrtümlich für das Jahr 2013 deklariert.
Diese Fehler würden aber nicht die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft belegen. Denn diese Dinge fanden alle jeweils nach der Aduno-Übernahme statt, von der Vincenz laut Anklage profitiert haben soll.
Die Zahlung von 2,9 Millionen Franken von Stocker an Vincenz
Nun geht es um die Kredite und die Liquiditätsbedürfnisse von Vincenz: Im April 2015 war Vincenz offiziell bei Investnet eingestiegen und sei Risiken eingegangen.
Anwalt Erni erläutert die Bewertungen der Firmen von Investnet: Statt alle Beteiligungen summarisch zu betrachten, also verlustreiche Firmen mit gewinnschreibenden Unternehmen zu saldieren, hätten die Regeln von Raiffeisen verlangt, verlustmachende Firmen einzeln zu bewerten. Die Verluste würden dann das Eigenkapital verringern mit entsprechender Pflicht, neues Eigenkapital nachzuschiessen.
Raiffeisen-Finanzchef Zoller habe in einer Verwaltungsratssitzung bestätigt, dass Raiffeisen dieses Kapital zu 60 Prozent, die übrigen Aktionäre zu 40 Prozent bereitstellen mussten.
Sprich: Vincenz ist mit seiner – damals dann offiziell bewilligten – Beteiligung an Investnet ein erhebliches wirtschaftliches Risiko eingegangen.
2015 gewährte Stocker Vincenz ein Darlehen von 2,9 Millionen Franken, so Anwalt Erni.
Die Darlehensvereinbarung vom Juni 2015 sehe interessanterweise einen Bezug zu Stockers Investnet-Beteiligung vor: Demnach würde Beat Stocker Pierin Vincenz ein Darlehen in der Höhe der Hälfte des Werts von Stockers Investnet-Beteiligung gewähren.
Einschätzung: An diesem Punkt wird es etwas wirr. Zunächst betont Erni, die Zahlung von 2,9 Millionen Franken an Vincenz hätte keinen Bezug zu Investnet. Dann erklärt er, dass die Höhe des Kredits laut Darlehensvereinbarung sehr wohl einen Bezug zu Stockers Investnet-Beteiligung hatte. Nämlich genau die Hälfte des Wertes.
Warum aber Stocker nun genau die Hälfte der Beteiligung Vincenz angeblich als Kredit auszahlt – und dies nicht eine versteckte Auszahlung darstellt, wie die Staatsanwaltschaft behauptet, wird an dieser Stelle nicht so recht klar.
Dann geht es um die berühmte Notiz von Vincenz vom 17. April 2014. Laut Anklage habe Vincenz damit seine Zahlungsströme aus der Investnet-Beteiligung dargestellt, die schrittweise von Raiffeisen übernommen werden sollten.
Laut Anwalt Erni sei die Notiz aus dem Jahr 2015 – in dem Jahr war Vincenz offiziell bei Investnet dabei. «Dass versehentlich mal ein falsches Datum eingesetzt wird, das haben wir alle schon mal erlebt», sagt Erni nonchalant.
Denn 2015 wurde die schrittweise Übernahme von Investnet durch Raiffeisen und die damit verbundenen Zahlungsströme anhand der neu verhandelten Bewertungsformel «ABV2» berechnet.
Vincenz habe mit dem Papier seine Risiken aus dieser Bewertungsformel darstellen wollen, so der Verteidiger. Denn die Firmen-Investments von Investnet sollten von 100 auf 350 Millionen Franken hochgefahren werden – bei gleichbleibenden Eigenkapital von 10 Millionen Franken. Hierdurch seien erhebliche Risiken für Co-Aktionär Vincenz entstanden.
Um solche Szenarien abzudecken, habe er das Papier geschrieben. In der Notiz sei zudem von Darlehen die Rede.
Warum sollte Vincenz das Wort «Darlehen» benützen, wenn es doch ein Privatpapier war und es – so die Klage – um Zahlungen «aus der versteckten Beteiligung» ging, fragt Erni
«Und», folgert Erni: «Das Papier entlastet Vincenz und belastet ihn nicht.»
Erni präsentiert einen weiteren Beleg dafür, wonach die Zahlungen an Vincenz eben Darlehen und keine Beteiligungsausschüttungen gewesen sein sollen. Das zeige eine von Stocker erstellte «Mindmap» vom 20. Dezember 2017.
Darin heisst es: «PV: 3,6 Millionen» (PV steht für Pierin Vincenz) und daran ein Pfeil mit dem Wort «abschreiben».
«Eine Forderung kann man nur abschreiben, wenn sie auch besteht», so Erni. Und warum soll Stocker in seiner persönlichen Notiz, die nur für ihn selbst gedacht war, von einem «Darlehen» sprechen, wenn es – wie die Klage behaupte – «eine Ausschüttung gewesen sein soll?», fragt Erni.
Später hätten die Gesellschaften Investnet Holding AG, Investnet AG und die alte KMU Capital entflechtet werden sollen. Dadurch seien die Nachschuss-Pflichten für Vincenz gestiegen.
Hier hätten Stocker und Vincenz Lösungsansätze diskutiert. In den aufgezeichneten Telefonaten ging es immer wieder um die Finanzierung von Nachschusspflichten, die durch Darlehen abdeckt werden sollten.
In verschiedenen Telefonat hätten Stocker und Vincenz auch explizit über die Rückzahlung von Darlehen gesprochen. Diese Teile der Telefongespräche seien von der Staatsanwaltschaft aber nicht berücksichtigt worden. «Offenbar, weil sei nur nach Belegen für ihre Vorwürfe gesucht habe», so der Verteidiger.
Erni beschäftigt sich in seinen Ausführungen auch mit einer SMS von Vincenz damaliger Frau, Nadja Ceregato, an Vincenz. Darin schreibt sie: «Dass Du über Stocker eine Unterbeteiligung hattest …»
Für die Staatsanwaltschaft sei das ein Beleg von Vincenz an einer früheren Beteiligung an Investnet. Erni widerspricht: «In einer SMS formuliert man nicht so präzise», sagt er. Der Inhalt könne also nur so verstanden werden, dass Ceregato meinte, Vincenz würde vorgeworfen, er solle eine «Unterbeteiligung gehabt haben».
Einschätzung: Das erscheint als ein schwaches Argument. Erni interpretiert den Wortlaut der SMS. Damit stellt er sich auf den Standpunkt, zu wissen, was Ceregato wirklich gesagt haben will. Das wirkt anmassend.
Dann kommt Erni zum Abschluss im Investnet-Fall: «Die Behauptung der Staatsanwaltschaft (über die Vincenz Investnet-Beteiligung, Anm. d. Red.) beruht ausschliesslich auf Spekulationen, sie kann es nicht belegen, sie unterschlägt wichtige Beweise, wie zum Beispiel, dass Vincenz zunächst fünf Millionen Franken Darlehen haben wollte. Ferner unterschlägt sie, dass Stocker und Vincenz selbst in internen Dokumenten nur von Darlehen gesprochen haben.»
Anwalt Erni kritisiert Artikel in der «SonntagsZeitung»
Jetzt geht es um einen Artikel in der «SonntagsZeitung». Laut Anwalt Erni sei dieser persönlichkeitsverletzend. Der Artikel beruhe auf der Auswertung der Kontoauszügen der LGT (Bank mit Sitz in Vaduz). Erni: Es sei kein Geheimkonto, wie geschrieben wurde. Es war ordentlich versteuert.
«Völlig falsch» sei zudem die Behauptung, Vincenz habe mit 95 Millionen Franken «gedealt». Die Zahl stimme nicht. Die Autoren seien nicht in der Lage, einen Kontoauszug zu lesen, da Posten auf dem Auszug irrtümlich aufaddiert worden seien.
Es geht um diesen Artikel:
«Die Behauptung der Staatsanwaltschaft ist (...) widerlegt»
Nun geht es um die Geldflüsse, welche ebenfalls die Beteiligung von Vincenz an Investnet belegen sollen: So haben Investenet-Gründer Peter Wüst und Andreas Etter im Jahr 2015 die Summe von 5,9 Millionen Franken an Stocker überwiesen. Kurz darauf schickte Stocker Vincenz 2,9 Millionen Franken.
Anwalt Erni: Die Klage behaupte, die Überweisung sei das Geld aus der hälftigen Unter-Beteiligung von Vincenz am Investnet-Deal gewesen. Stocker und Vincenz sagen: Das Geld war ein Darlehen.
Erni zitiert aus dem Chatverlauf zwischen Stocker und Vincenz aus dieser Zeit: Demnach habe Vincenz damals tatsächlich um einen Kredit von 5 Millionen Franken angefragt. Später kündigte Stocker dann die Auszahlung einer «ersten Tranche» an.
Die Überweisung von 2,9 Millionen Franken sei, so Erni, also nicht Geld aus einer angeblichen Unterbeteiligung, sondern eben die zuvor im Chat angekündigte erste Tranche aus dem Privatkredit von insgesamt 5 Millionen Franken gewesen. Der Staatsanwaltschaft lege dieser Chatverlauf vor, sie habe diesen aber in der Klage unterschlagen.
Zudem hätte Stocker das Geld auf das Raiffeisen-Konto von Vincenz überwiesen. Beiden sei klar gewesen, dass der Eingang einer solch grossen Summe bei der Bank natürlich Abklärungen auslösen würde. Wäre das Geld eine Zahlung aus einer versteckten Unterbeteiligung aus Investnet gewesen, hätte er das Geld sich sicher nicht an seine Hausbank schicken lassen, so Erni.
«Die Behauptung der Staatsanwaltschaft ist nicht nur nicht plausibel. Sie ist auch durch den Fakt, dass Herr Vincenz einen Kredit von 5 Millionen Franken anstrebte, widerlegt», so Erni.
«Gelingt dieser Beweis nicht, so fällt die Anklage in sich zusammen»
«Auch Investnet war eine Erfolgsgeschichte – oder hätte es werden können.» Bis Berichte über mögliche Unregelmässigkeiten aufgetaucht sind, so Erni.
Die Gründer Peter Wüst und Andreas Etter wollten Investnet 2025 an die Börse bringen – mit einem möglichen Gewinn für Aktionär Raiffeisen.
Die Klage sage, Vincenz habe sich über eine Treuhandvereinbarung mit Stocker indirekt an Investnet beteiligt. Die sei – so die Klage – Vincenz' Kernschattenbeteiligung gewesen.
«Diese Behauptung erfolgt zu unrecht. Die Staatsanwaltschaft ist nicht in der Lage, das zu beweisen.» Sie habe nur ein «Sammelsurium» an angeblichen Belegen für Vincenz' Beteiligung an Investnet vorgelegt. Die würden aber nicht überzeugen.
Raiffeisen habe bereits Anfang der 90er Jahre die Gesellschaft KMU Capital betrieben, die KMU Beteiligungskapital zur Verfügung stellen sollte. Das Geschäft war aber nicht erfolgreich, es fehlte an Know-How.
Dann kam 2011 die Idee auf, mit Investnet, die von Wüst und Etter beherrscht wurde, zusammenzuspannen. Sie hatte das Know-How, aber es fehlte Investnet das nötige Kapital.
Wüst und Etter stellten dann Stocker eine Beteiligung an Investnet in Aussicht, dies im Zuge einer möglichen Annäherung an die Raiffeisen-Gruppe.
Kern sei nun nur die Frage, ob Vincenz an Stockers Investnet-Beteiligung selbst heimlich beteiligt war. «Gelingt dieser Beweis nicht, so fällt die Anklage in sich zusammen», so Erni.
Nun geht es darum, wie es zur Beteiligung von Raiffeisen an Investnet kam. Erni zitiert aus den Aussagen von Vincenz' damaliger Nummer 2 bei Raiffeisen, Patrik Gisel. Dieser sagte, bei der Beteiligung habe es «keine grosse Feilscherei» gegeben. Es ging recht schnell, sodass Raiffeisen 60 Prozent des Kapitals von Investnet bekommen sollte, 40 Prozent behielten die Alt-Aktionäre von Investnet.
Auch Ex-Raiffeisen-Präsident Johannes Rüegg-Stürm habe erklärt, dass die Geschäftsleitung das geplante Beteiligungsverhältnis «überzeugend» habe erklären können. Sprich: Erni legt dar, dass das Beteiligungsverhältnis nicht auf Einflussnahme von Vincenz zurückzuführen sei.
Dann geht es um die berühmte Formel, wie der Wert der Minderheitsanteile der Altaktionäre von Investnet errechnet worden ist (dies zum Zweck eines allfälligen Auskaufs der Altaktionäre durch Raiffeisen). Diese Formel lieferte Ergebnisse, die sehr zugunsten der Alt-Aktionäre von Investnet – also Peter Wüst, Andreas Etter und auch Beat Stocker - ausgefallen war. Daher wurde diese Formel später neu verhandelt.
Vincenz habe mit der Aufstellung und der späteren Neuverhandlung dieser Bewertungsformel aber nichts zu tun gehabt, betont Erni. Der Anwalt meint, im Gerichtssaal würde vermutlich sowieso niemand die Details dieser Rechnung verstehen, das gelte auch für seinen Mandanten.
Zwischenfazit: Vincenz sei nie an Investnet beteiligt gewesen. Die Staatsanwaltschaft könne das nicht beweisen. Auf die Bewertung der Investnet beim Aktientausch mit der Raiffeisen-Tochter KMU Capital habe Vincenz keinen entscheidenden Einfluss gehabt.
In einer Mail vom 6. September 2011 hatte Investnet-Gründer Andreas Etter an seinen Partner Peter Wüst geschrieben, dass bei der bis dato besprochenen Annäherung von Investnet an Raiffeisen die «persönlichen Pläne» von Stocker und Vincenz nicht berücksichtigt seien.
In dem Verweis auf die «persönlichen Pläne» sehe die Staatsanwaltschaft den Beweis für die Beteiligungspläne von Vincenz und Stocker, um später die Investnet-Anteile Raiffeisen teuer anzudienen.
Die Mail ist aus Sicht von Erni aber überhaupt kein Beweis für eine geplante persönliche Beteiligung von Vincenz an Investnet. Diese Interpretation des Mailinhalts habe Etter auch in seiner Einvernahme bestritten.
Erni weiter: Ferner verweise die Staatsanwaltschaft auf Aussagen der Investnet-Gründer, dass Stocker «als Statthalten» ins Kapital von Investnet einsteigen sollte. Dies sei ein Beleg dafür, dass Stocker der «Statthalter» für Vincenz sei – was dessen Beteiligung belege.
Dem sei nicht so, sagt Erni. Das habe Peter Wüst bei seinen Einvernahmen ausgesagt. Es seien damals verschiedene Modelle für die Annäherung von Raiffeisen und Investnet überlegt worden. Dabei hätten auch steuerliche Aspekte eine Rolle gespielt. In einem Modell hätte Stocker 22,5 Prozent der Anteile übernommen, die eigentliche für Raiffeisen gedacht gewesen seien.
Sprich: Beat Stocker sei der Statthalter für Raiffeisen gewesen, aber nicht für Pierin Vincenz.
Was auffällt: Anwalt Lorenz Erni argumentiert im Fall Investnet oft mit Aussagen von Peter Wüst, Andreas Etter und Beat Stocker. Doch diese sind eben wie Vincenz Beschuldigte in dem Prozess. Und sie alle haben ein Interesse daran, dass die Vorwürfe gegen Vincenz abgeschmettert werden. Die Frage wird sein: Wie glaubhaft sind diese Erklärungen der Mitbeschuldigten, die Vincenz entlasten? Das muss das Gericht beantworten.
Vincenz-Verteidiger: «Damit ist aber überhaupt nichts belegt»
Jetzt geht es um den Fall Commtrain.
Zur Erinnerung: Das war der erste Deal, den Vincenz und Stocker durchzogen, die Affäre nahm ihren Anfang. Pierin Vincenz und der Mitangeklagte Beat Stocker sollen sich gemeinsam verdeckt an der Informatikfirma Commtrain beteiligt haben. Sie wird später an die Kreditkartenfirma Aduno verkauft. Dort amtet Stocker als Chef und Vincenz als Verwaltungsratspräsident.
«Aspekte der Transaktion müssen richtig gestellt werden», sagt Erni. Laut Klage sei «von Anfang» Ziel gewesen, Commtrain an die Viseca (also der Vorläufergesellschaft von Aduno) zu verkaufen. Das stimme aber nicht.
Alles habe mit einer Anfrage des früheren Ständerats Hans Ulrich Baumberger angefangen. Dieser hätte im Jahr 2004 Vincenz gefragt, ob er Commtrain ein Darlehen geben wolle. Ziel sei gewesen, die Arbeitsplätze der Commtrain in der Ostschweiz zu erhalten.
Vincenz habe dann, so Erni, Stocker als Berater hinzugezogen. Im vierten Quartal 2004 hätte es ein Treffen mit Verantwortlichen von Commtrain und Vincenz gegeben. «Das ist die einzige Unterredung, an der er sich persönlich beteiligt hat.»
Danach sei Vincenz überhaupt nicht mehr in die Verhandlungen involviert gewesen. Auch Baumberger habe 2009 geschrieben: «Dein Verhalten (also das von Vincenz) war in dieser Angelegenheiten stets passiv.»
Die Klage habe nie einen Beweis geliefert, dass es anders war. Die Klage habe sich hier auf Mails von Stocker an den beteiligten Anwalt Barthold bezogen: Demnach wollte Stocker den Deal mit Vincenz besprechen. In einer weiteren Mail sei es darum gegangen, dass Vincenz sich mit Baumberger über die Commtrain-Transaktion bei einem Essen unterhalten wolle.
«Damit ist aber überhaupt nichts belegt», sagt Erni. Es sei nicht mal belegt, dass dieses Essen überhaupt stattgefunden hat. Baumberger habe dagegen auch vor Zeugen gesagt, dass sich Vincenz «nie» in die Verhandlungen zur Commtrain-Übernahme durch Aduno eingemischt habe.
Auch Aduno-Finanzchef Auerbach habe ausgesagt, dass er «nie» die Bewertung von Commtrain mit Vincenz besprochen habe.
Vincenz habe gesagt, dass Entscheide über Deals stets in Projektgruppen vorbereitet und in Gremien beschlossen worden sind. Bei regulierten Unternehmen wie Raiffeisen seien die Entscheidungswege klar geregelt. Bei der entscheidenden Sitzung habe Vincenz «keinen Stichentscheid» gehabt, es habe stets eine breite Mehrheit gegeben. Dies habe der Finanzchef von Raiffeisen, Marcel Zoller, auch so bestätigt.
Zwischenfazit: Im Fall Commtrain will Erni belegen, dass Pierin Vincenz auf die Bewertung der Commtrain keinerlei Einfluss genommen hat. Damit fällt das Argument der Staatsanwalt weg, dass der Verkaufsgewinn von Vincenz einen Schaden bei Aduno bedeutet.
Erni bestreitet aber nicht – was auch kaum möglich wäre, da belegt – dass Vincenz über die Beteiligungsgesellschaft IFM gemeinsam mit Stocker an Commtrain beteiligt war. Vincenz habe diese Beteiligung der Finma gemeldet, diese habe hierzu auf einen ausführlichen Bericht verzichtet.
Zunächst wollte sich Vincenz auch gar nicht an Commtrain beteiligen, geplant sei ein Darlehen gewesen. Doch da sich nach einer Analyse der Bilanz gezeigt hatte, dass Commtrain keine weiteren Schulden hätte aufnehmen können, wurde entschieden, dass Vincenz ins Kapital einsteigt.
Zudem habe Stocker ausgesagt, dass der ursprüngliche Plan gewesen sei, dass Commtrain und Aduno kooperieren würden. Ein Verkauf der Commtrain sei zunächst nicht geplant gewesen. Das widerspreche der Klage, die behauptet, der Verkauf an Aduno sei von Anfang der Plan von Vincenz und Stocker gewesen als sie sich beteiligten.
Erni zitiert aus dem Businessplan von Stocker aus dem Jahr 2005 für Commtrain: Dieser hätte «ausschliesslich» auf der Idee einer Kooperation zwischen Commtrain und Aduno beruht.
Der Anwalt weiter: Dass Commtrain schon 2006 übernommen worden war, lag ausschliesslich im Interesse der Viseca/Aduno. «Hätte Commtrain Zeit gehabt, sich mit der Kooperation mit Viseca zu entwickeln, wäre der Wert der Commtrain weiter gestiegen», argumentiert Erni.
Die Übernahme sei beschlossen worden, damit Commtrain primär die Verkäufe der Kartenterminals vorantrieb. Pro vermittelten Vertrag für eine Kreditkartenabwicklung, die mit den Terminals verbunden war, bekam Commtrain 270 Franken von Viseca/Aduno.
Commtrain verkaufte mehr Terminals und Viseca zahlte Provisionen. Visecas eigene Verkaufszahlen hätten dagegen enttäuscht.
Daher hätten sich 2006 die Viseca-Verantwortlichen gefragt, ob das Kooperationsmodell noch Sinn mache. Es sei für Viseca quasi günstiger gewesen, Commtrain zu kaufen, als Commtrain für seine Vertriebsleitung zu entschädigen. Je länger Viseca/Aduno mit dem Zukauf gewartet hätten, desto teurer wäre die Übernahme geworden und umso mehr hätten Vincenz und Stocker mit ihren Commtrain-Anteilen verdient.
Dann geht es um die Nicht-Offenlegung der Beteiligung. Erni stellt nicht in Frage, dass Vincenz die Beteiligung hätte offenlegen und in den Ausstand treten müssen. Daraus leite sich aber – anders als die Klage sage – nicht ab, dass er seinen Verkaufsgewinn aus der Commtrain-Beteiligung hätte abliefern müssen.
Zudem habe Vincenz seine Beteiligung stets korrekt in der Steuererklärung angegeben. Raiffeisen hätte jederzeit Einblick in seine Vermögensverhältnisse verlangen können.
Erni fasst den Commtrain-Fall zusammen: Es habe nicht von Anfang an die Absicht gegeben, Commtrain an Viseca/Aduno zu verkaufen. Vincenz habe keinen Einfluss auf den Übernahmeprozess genommen. Die Übernahme sei im Interesse der Viseca/Aduno gewesen.
Erni: Anklage hat Argumentation geändert
Die Klage begründe den Schaden im Fall von Aduno damit, dass Vincenz und Stocker in einer Verletzung der Vermögensfürsorgepflicht Einfluss auf die Preisgestaltung bei den Übernahmen genommen haben, so Erni.
Beispiel Commtrain: Hier werfe die Staatsanwaltschaft Vincenz vor, dass der frühere Raiffeisen-Chef und Stocker im eigenen Interesse den massiven Preisanstieg der Aktien von Commtrain förderten, sprich Aduno kaufte die Commtrain-Aktien viel teurer ein als Vincenz und Stocker. Ähnlich argumentiere die Klage beim Fall Investnet, so Erni.
Erni präsentiert dazu Gegenbeweise: So habe Konrad Auerbach, Finanzchef bei Aduno, bei seiner Befragung 2019 gesagt, dass die Acquisition von Commtrain sinnvoll gewesen sei und die Zahlen des Unternehmens seien bekannt gewesen. Auerbach habe zudem bestätigt, dass der Bewertungsprozess in seiner Verantwortung lag. Der Prozess ergab einen Wert von 14 Millionen Franken im «realistic Case». Im «Worstcase» lag die Bewertung bei 4,5 Millionen Franken.
«Aufgrund dieser Aussage muss dem Staatsanwaltschaft bewusst geworden sein, dass sie mit Gutachten zur Bemessung des Schadens nicht weit kommen würden.»
Damit spielt Erni auf den Umstand an, dass die Staatsanwaltschaft zunächst versucht hatte, zu belegen, dass Aduno und Raiffeisen die Firmen zu teuer eingekauft hätten. Dies wollte die Staatsanwaltschaft mit Bewertungsgutachten belegen.
Dann änderte sie die Argumentation: Nun heisst es, dass Vincenz und Stocker ihre Gewinne aus den Deals ihren Arbeitgebern hätten abgeben müssen. Darin läge eine Treueverletzung.
Die Staatsanwaltschaft habe «kalte Füsse» bekommen, als sie die Bewertungsgutachten gelesen hatte, so Erni.
Vincenz-Anwalt wirft Raiffeisen vor, Informationen geleakt zu haben
«Wir fangen an mit dem Plädoyer von Lorenz Erni», eröffnet Richter Sebastian Aeppli den neuen Verhandlungstag.
Nervös wirkte Erni vor seinem Monster-Plädoyer nicht, das auf 4,5 Stunden angelegt ist. Locker auf der Tischkante hockend, plauderte er vor seinem grossen Auftritt mit dem Anwalt Fatih Aslantas, der den Beschuldigten Peter Wüst, Co-Gründer von Investnet, vertritt.
«Er hat sehr viel bewegt. Raiffeisen wäre nicht Raiffeisen ohne ihn», beginnt Erni seine Ausführungen. «Mit diesen prägnanten Worten hat der damalige Finanzchef Marcel Zoller die unbestrittenen Erfolge von Pierin Vincenz beschrieben.»
Vincenz habe für Milliardengewinne bei Raiffeisen gesorgt. Erni zitiert Zeitzeugen, um die Bedeutung von Vincenz hervorzuheben. «Die Entwicklung der Aduno-Gruppe ist vor allem auf Pierin Vincenz zurückzuführen», zitiert er einen früheren Aduno-Verantwortlichen.
«Erfolg hat Neider.» Das scheine das Motiv für den Whistleblower gewesen zu sein, die Zahlung von Stocker an Vincenz von der Bank Bär an die Öffentlichkeit durchzustechen, so Erni. Am Anfang des Verfahrens stehe eine Verletzung des Bankgeheimnisses. Man könnte sich also auf den Standpunkt stellen, dass alle Folgebeweise rechtswidrig seien, argumentiert Erni. Die Berichte in «Inside Paradeplatz» nennt Erni «Spekulationen» über angebliches Fehlverhalten.
Erni beklagt sich, dass es permanent «Leaks» über die laufende Strafuntersuchung gab. Der Anwalt sagt, Raiffeisen sei für diese Lecks verantwortlich.
Beleg? Nach der Einvernahme des Beschuldigten Richterich (er Ex-PR-Berater von Vincenz) wurde Erni unmittelbar von einem Journalisten angerufen. Doch neben der Staatsanwaltschaft und den Anwälten von Richterich seien nur die Vertreter Raiffeisens über die Einvernahme und Hausdurchsuchung informiert gewesen. Richterich selbst hätte wohl kein Interesse an einen Leck gehabt. So bleibe also nur Raiffeisen.
Hier fährt Erni erstmals schweres Geschütz auf.
Dann wendet sich Erni den Hauptvorwürfen zu. «Herr Vincenz ist vollumfänglich freizusprechen.» Das werde er belegen.
Wer ist Lorenz Erni?
Der Zürcher Strafverteidiger ist kein Freund der Öffentlichkeit. Obwohl er kaum zu den Medien spricht, ist Erni einer der wenigen Anwälte, die in den Prozessberichterstattungen jeweils namentlich genannt werden; wobei sein Name meist vom Attribut Staranwalt begleitet ist. Seine mediale Zurückhaltung begründete Erni einst folgendermassen: «Es gehört zu meinem Berufsverständnis, vor Gericht und nicht in den Medien zu plädieren.»
In der Mediendatenbank sind unzählige Prominente aufgeführt, die Erni in den letzten 40 Jahren vor Zürcher Gerichten vertreten hat, wobei sein bekanntester Klient wohl der wegen Vergewaltigungsvorwürfen in Zürich verhaftete Regisseur Roman Polanski war. Die Namen der von Erni verteidigten Klienten lesen sich wie ein «Who is who»: der Winterthurer Unternehmer Rolf Erb, der russische Investor Viktor Vekselberg, Ex-Bildungsdirektorin Regine Aeppli (SP) im Fall Mörgeli, die ehemalige Zürcher Regierungsrätin Dorothée Fierz (FDP) im Zusammenhang mit Amtsgeheimnisverletzung, der frühere Swissair-Chef Philippe Bruggisser, der wegen Mordes verurteilte Dübendorfer Tierarzt Gabor Bilkei oder die Ex-Freundin von René Osterwalder.
In einem der ganz wenigen Interviews, die der Strafverteidiger 2012 gab, beschrieb er sich als Einzelkämpfer: «Das Vertrauen leidet, wenn ein Mandant immer wieder mit einem anderen Anwalt zu tun hat.» Wichtig sei, dass ein Beschuldigter keine Aussagen machen soll, bevor er sich mit seinem Anwalt beraten hat. Die Triebfeder des Strafverteidigers sei der Zweifel: «Er muss alles hinterfragen und darf sich nicht vom ersten Eindruck blenden lassen.» Letztlich müsse er auch beim Gericht Zweifel säen.
Vor Gericht argumentiert Erni mit dem Florett, nicht mit dem Zweihänder. Sachlich, konkret und präzise, wie Erni selber sagt. Man sollte nicht um den Brei herumreden und schon gar nicht Luftschlösser bauen. Als unaufgeregt, effizient und ohne Allüren beschreibt eine ehemalige Klientin den Anwalt.
Die Protagonisten im Vincenz-Prozess
Zusammenfassung am Donnerstagabend
Ex-Raiffeisenchef Pierin Vincenz und dessen Geschäftskollege Beat Stocker hätten sich enorm bereichert und einen beträchtlichen Schaden angerichtet, sagte der Staatsanwalt am Donnerstag im Zürcher Volkshaus. Freiheitsstrafen von je sechs Jahren wären deshalb angemessen.
Den beiden Hauptbeschuldigten kamen unterschiedliche Rollen zu, wie der Staatsanwalt ausführte. Als Raiffeisenchef habe Vincenz über die stärkere Stellung verfügt. Er habe andere Personen überzeugen und so zu Transaktionen bewegen können. «Vincenz nutzte das Vertrauen und seine Macht aus – dieser Missbrauch wiegt schwer.»
Stocker habe zwar nicht über Vincenz› Macht verfügt, doch sei er das Gehirn gewesen. «Er hat das Doppelspiel zulasten der Privatkläger perfektioniert.» Der Staatsanwalt sprach von einer «erheblichen kriminellen Energie».
Das Who-is-who des Prozesses: Die Raiffeisen-Kartei
In seinem Plädoyer zitierte der Staatsanwalt auch aus Mails und Telefongesprächen. So soll etwa Vincenz im Februar 2018 zu Stocker gesagt haben, dass sie sich auf ein gemeinsames Wording einigen müssten. Wenn niemand einen «Seich» erzähle und sie sauber blieben, dann «können sie uns nicht knacken».
Sowohl Verkäufer als auch Käufer
Die Staatsanwaltschaft hatte am Mittwochabend und Donnersagvormittag in einem rund siebenstündigen Plädoyer ihre Anklage begründet, in der sie Vincenz und Stocker unter anderem Betrug und ungetreue Geschäftsbesorgung vorwirft.
So sollen die beiden Hauptbeschuldigten beispielsweise gezielt darauf hingewirkt und gedrängt haben, dass die von ihnen gelenkte Kreditkartenfirma Aduno die Eurokaution übernommen hat. An letzterer sollen sich Vincenz und Stocker zuvor verdeckt privat beteiligt haben, um bei der Übernahme dann finanziell zu profitieren.
Von einem «klandestinen Vorgehen» sprach diesbezüglich der Anwalt der Visceca AG, der früheren Aduno am Nachmittag. Vincenz und Stocker seien bei den Übernahmegesprächen jeweils auf beiden Seiten des Verhandlungstisches gesessen. «Sie haben im Verwaltungsrat der Aduno immer im Sinne ihrer eigenen finanziellen Interessen gestimmt.»
Ein Doppel- und Versteckspiel
Die Aduno habe durch diese Übernahme einen Totalschaden erlitten, hielt der Staatsanwalt fest. Den Beschuldigten sei dabei klar gewesen, dass die Eurokaution «kein Potenzial für eine positive Entwicklung» habe. Es sei ein wertloses Produkt gewesen.
Darauf wies auch der Aduno-Anwalt hin: Stocker habe mit dem Eurokaution-Deal einfach «für sich und seine Komplizen noch einen erheblichen Gewinn herausholen» wollen. Dass er mit der Übernahme gleichzeitig die Aduno massiv geschädigt habe, deren langjähriger Verwaltungsrat er gewesen sei, sei ihm völlig egal gewesen.
Laut Anklage sollen Vincenz und Stocker dieses «Doppelspiel» mit einer sorgfältig aufgebauten Verheimlichungsstrategie in verschiedenen weiteren Fällen gespielt haben. Zudem wirft ihnen die Staatsanwaltschaft vor, private Auslagen als Geschäftsspesen abgerechnet zu haben. Damit hätten sie insgesamt einen unrechtmässigen Gewinn von 25 Millionen Franken eingestrichen.
Den beiden sollen fünf Mitbeschuldigte zu verschiedenen Zeitpunkten Beihilfe geleistet haben. Für diese beantragte die Staatsanwaltschaft unterschiedliche Strafen, die von einer bedingten Geldstrafe bis zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren reichen.
Am Bezirksgericht Zürich, das im Volkshaus tagt, stehen nun die Plädoyers der verschiedenen Verteidigerteams an. (sda)
Die Sache mit der Arena Thun
Jetzt geht es um Ferdinand Locher. Er ist Immobilienunternehmer und war Hauptaktionär der Firma Eurokaution. Einer der Firmen, an denen sich Vincenz und Stocker heimlich beteiligt haben sollen. Locher suche Gelegenheiten für Geschäfte, erklärt sein Fürsprecher Jürg Wernli.
Locher habe nichts anderes getan als einen Maklervertrag abgeschlossen. Das sei zivilrechtlich zulässig und könne daher nicht strafrechtlich verboten sein. Auch sei die Entgegennahme von Provisionen nicht strafbar. Zudem habe Locher davon ausgehen können, dass bei der Raiffeisen Schweiz in Sachen Arena Thun der normale Prüfprozess angelaufen sei.
Ferdinand Locher habe nichts verheimlicht, so sein Fürsprecher. Auch das Aktienbuch habe er nicht verändert. Für Ferdinand Locher gab es bei Beat Stocker keinen Interessenkonflikt. Von einer Beteiligung von Pierin Vincenz habe er nur gerüchteweise gehört.
«Locher wusste nur, was er zu wissen bekam», sagt sein Anwalt. Zu vielen Treffen sei er gar nicht eingeladen worden. Etwa zu einem – für die Staatsanwaltschaft offenbar wichtigen – Abendessen von Vincenz und weiteren Personen. Oder einem Termin in Genf.
Locher soll freigesprochen werden, fordert sein Fürsprecher Wernli. Locher sei unter anderem mit 5000 Franken für die zwei Tage Haft zu entschädigen.
Raiffeisen will Vincenz’ Geld in Greifweite haben
Nun bringt Raiffeisen-Anwalt Feller auch noch die umstrittenen Spesenabrechnungen vor. Pierin Vincenz hätte gewusst, dass Besuche im Cabaret nicht firmenüblich seien, sagt Feller. Wenn es wirklich so gewesen wäre, dass es eine Abmachung dazu mit Raiffeisen-Präsident Rüegg-Stürm gegeben hätte, dann hätte das Vincenz bei der gemeinsamen Einvernahme ansprechen müssen.
Sein Fazit: Raiffeisen verlangt die Verurteilung der Beschuldigten und die Abschöpfung der Gewinne.
Die Bank will offenbar auch dafür Sorgen, dass das Geld von Vincenz in Greifweite bleibt. So verlangt Vincenz’ Ex-Frau Nadja Ceregato die Aufhebung der Sperre von zwei Millionen Franken. Raiffeisen weist das zurück. Das Geld gehöre auch nach der Scheidung immer noch Vincenz, zumindest solange bis das Strafverfahren beendet sei, so Feller.
Das gelte auch für den geplanten Verkauf des Hauses. Dieses sei zu 95 Prozent durch Deliktgelder erworben worden, so Feller. Das Hause habe fast zwei Millionen Franken gekostet. Der Anteil von Ceregato sei sehr klein. Die Bank will die Vermögenssperre über die Konten und Immobilien aufrechterhalten, bis das Verfahren beendet sei.
Der Raiffeisen-Anwalt: Bei Seilbahn-Deal zeigte Vincenz Sachkenntnis
Raiffeisen-Anwalt Urs Feller wiederholt die Vorwürfe von Staatsanwaltschaft und Aduno. Der Generalsekretär von Raiffeisen habe ausgesagt, dass Vincenz bei einem Kredit an die Seilbahnen Andiast (Gemeinde in der Surselva bei Brigels, in der Vincenz aufwuchs, SRF berichtete gestern in einer Reportage aus dem Ort) in den Ausstand getreten sei. Dies weil er keinen Interessenkonflikt riskieren wollte.
Das zeige laut Feller, dass Vincenz sehr wohl bewusst gewesen sei, was bei potentiellen Interessenkonflikten eigentlich zu tun wäre. Es sei also nicht so, das Vincenz aus Unerfahrenheit ungeschickt vorgegangen sei. So, wie er das an der Verhandlung am Dienstag sagte.
Auch Feller zitiert aus Mails und Telefonprotokollen, welche die angeblichen Absprachen belegen sowie zeigen sollen, wie Geldflüsse zwischen den Beschuldigten abliefen.
Der Genfer Immobilienunternehmer Stéphane Barbier-Mueller (GCL) habe laut Raiffeisen-Anwalt Feller nach einem gemeinsamen Besuch an einem Prince-Konzert Beat Stocker in einer Mail gefragt: «Habe ich nicht nur Purple Rain gehört, sondern haben wir auch die Finanzierung von GCL geklärt?» Stocker: «Ja, so ist es.» Vincenz habe sich in der Raiffeisen-Geschäftsleitung für den 200-Millionen-Kredit an Genève Crédit & Leasing (GCL) stark gemacht.
Ein Raiffeisen-Geschäftsleitungsmitglied habe sich später daran erinnert, dass Vincenz sonst bei den Diskussionen um Firmenkredite wenig Interesse gezeigt habe – bei diesem Traktandum sei er aber euphorisch gewesen, so Feller.
Ein Anwalt als «richtiger Strohmann»
Die Bezahlkartenfirma Aduno tritt in dem Verfahren als Privatklägerin auf. Aduno-Anwalt Marc Engler beschreibt noch einmal, wie Pierin Vincenz und Beat Stocker bei den Firmendeals vorgegangen sein sollen. Dabei rollt er den Fall Commtrain erneut auf. Diese Firma wurde von Aduno gekauft. An Commtrain seien Vincenz und Stocker beteiligt gewesen und sie hätten auf den Kauf durch Aduno hingewirkt, wo sie grossen Einfluss hatten.
Dabei spielte der Anwalt Beat Barthold (lesen Sie hier: Er hat seine Schuld grossteils eingestanden) eine wichtige Rolle. Für Stocker sei er «der richtige Strohmann» gewesen, so Engler. Er beschreibt ihn als «treuen Soldaten». Barthold habe dafür gesorgt, dass die Aktionäre der IFM, Vincenz und Stocker, unentdeckt blieben. Und der Anwalt habe etwa auch dafür gesorgt, dass etwa der Revisor nicht wusste, das Vincenz beteiligt war.
Hätte Stocker im Aduno-Verwaltungsrat offengelegt, dass er bei Commtrain engagiert war, wäre der Kauf nicht über die Bühne gegangen. Das habe Stocker gestern eingeräumt. «Ein Novum», so Engler. Bei der Diskretion sei es nur darum gegangen, die Altaktionäre von Commtrain zu täuschen und den Deal nicht zu gefährden.
Aduno-Anwalt Engler beschreibt auch, wie der Deal mit Genève Credit & Leasing (GCL) zustande gekommen sein soll. Dabei macht Engler dem ehemaligen Aduno-Chef Beat Stocker heftige Vorwürfe in blumiger Sprache. Stocker habe zwei Hüte getragen oder sei zweimal am selben Tisch gesessen, ungeachtet der Interessenskonflikte.
Die von Engler zitierten Passagen aus den Mails sind zwar andere als diejenigen der Staatsanwaltschaft. Sie vermitteln aber denselben Eindruck: Die Beschuldigten sprachen sich ab, um die Firma der Aduno verkaufen zu können. Auch bei Eurokaution beschreibt Engler dasselbe Vorgehen.
Die Beschuldigten hören dem Plädoyer zu oder lesen kopfschüttelnd in der schriftlich abgegebenen Fassung mit.
Vincenz-Prozess wird auch im deutschsprachigen Ausland beobachtet
Über den Prozess gegen den früheren Raiffeisen-Chef gibt es auch Berichte in Deutschland: So haben «Spiegel», «Süddeutsche» oder «Wirtschaftswoche» entsprechende Artikel aufgeschaltet.
Strafantrag der Anklage: Je sechs Jahre Freiheitsentzug für die beiden Hauptbeschuldigten
Staatsanwalt Oliver Labhart liest den Antrag zum Strafmass vor. Vincenz und Stocker sollen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt werden. Es gehe um gewerbsmässigen Betrug und mehrfache aktive und passive Bestechung. Die deliktische Tätigkeit habe lange sieben Jahre gedauert und die Bereicherung der Beschuldigten sei enorm.
«Der Beschuldigte Vincenz verfügte über eine starke Machtposition», so Ankläger Labhart. «So konnte er die Transaktionen in die richtigen Bahnen lenken. Und er habe es geschafft, das Vertrauen von wichtigen Personen zu gewinnen und auszunutzen.»
«Der Beschuldigte Stocker verfügte nicht über diese Eigenschaften», sagt Labhart weiter. «Er war das Hirn der Transaktionen», so der Staatsanwalt. Er habe sein Doppelspiel perfektioniert, sagt der Ankläger. Besonders krass habe sich das bei Transaktion der Eurokaution gezeigt.
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