Hochwasserschutz und Biodiversitäts-HotspotsRenaturierte Reuss: Wieso Feuchtgebiete so wichtig sind
Bei Sins im Aargau darf die Reuss wieder ihren eigenen Lauf nehmen. Auen beherbergen die Hälfte der in der Schweiz vorkommenden Pflanzenarten und über 80 Prozent unserer heimischen Tierarten.

Unermüdlich senkt der gelbe Bagger seine riesige Schaufel ins Erdreich, trägt Kubikmeter um Kubikmeter der Uferböschung ab. Diese trennt die Reuss von der neu geschaffenen Aue. Als sich die Zähne der Baggerschaufel zum wiederholten Male in die Erde bohren, dringt endlich Wasser vom Fluss in den ausgehobenen Graben und fliesst in die vorbereitete Auenlandschaft. Der Durchstich ist perfekt.
Naturschutz und Bagger? Das muss kein Widerspruch sein. Denn ohne schwere Maschinen liesse sich kaum ein Fluss renaturieren. Und genau ein solcher Eingriff geschieht in der Reussegg bei Sins im Kanton Aargau an diesem 24. August 2024. Damit findet ein seit Jahren vorbereitetes Projekt seinen vorläufigen Höhepunkt.

Vor 31 Jahren hat das Aargauer Stimmvolk beschlossen, dass mindestens 1 Prozent der Kantonsfläche zu einem Auenschutzpark werden soll. Seit der Abstimmung ist viel geschehen, wie die Auen zwischen Aarau und Wildegg, das Wasserschloss bei Brugg, das untere Reusstal oder die Bünzaue Möriken beweisen. «Ich bin stolz auf das, was wir bis heute erreicht haben», sagt Norbert Kräuchi, Leiter Abteilung Landschaft und Gewässer des kantonalen Departements Bau, Verkehr und Umwelt, anlässlich des Durchstichs der Aue Reussegg, mit dem das jüngste Auenschutzprojekt vollendet worden ist.
Doch was genau ist eine Aue? Unter dem Begriff versteht man eine unverbaute, vom Wasser geprägte Landschaft, ein Gebiet entlang eines Flusses oder eines Bachs, in dem sich die natürliche Dynamik des Wassers frei entfaltet. Dessen unbändige Kraft kippt Bäume und gestaltet Sandbänke, lässt kleine Inseln entstehen und überflutet sie wieder und ist die Grundlage für eine vielfältige Vegetation.
Auen sind die artenreichsten Lebensräume der Schweiz. Hier finden rund die Hälfte der in der Schweiz vorkommenden Pflanzenarten und über 80 Prozent unserer heimischen Tierarten ein Zuhause. «Der Schutz einzelner Tierarten ist gut und recht», sagt die Biologin Dora Strahm, «schützen wir jedoch einen ganzen Lebensraum, hilft das gleich allen dortigen Bewohnern.» Dora Strahm hat als Ausstellungskuratorin am Naturhistorischen Museum Bern den Auftrag, einem breiten Publikum die Natur ans Herz zu legen.
Die Regenwälder der Schweiz
Auen decken ganz verschiedene Bedürfnisse ab und bieten vielen Tier- und Pflanzenarten, darunter auch seltenen und bedrohten, ein Zuhause: Die Sibirische Schwertlilie mag sumpfige Wiesen, der Eisvogel brütet in sandig-lehmigen Steilwänden, die Ringelnatter wärmt sich auf Steinen und jagt am Ufer oder im Wasser nach Fröschen und Fischen. Dem Kamm-Molch gefällt es in Tümpeln, und die Gebänderte Prachtlibelle mag sonnige Ufer.


«Damit sich ein Tier wohlfühlt, braucht es drei Dinge: Kinderstuben, Verstecke und Nahrung», sagt Dora Strahm. Kinderstuben können Büsche sein für den Nestbau, das Kiesbett im Fluss oder bestimmte Pflanzen für die Ei-Ablage. Verstecke brauchen die Tiere, um sich vor Feinden zu schützen und um auszuruhen.
Die Bemühungen im aargauischen Sins wurden schon früh belohnt. «Noch während der Bauarbeiten sind Flussregenpfeifer und Kiebitze ins Gebiet gekommen sowie das Tier des Jahres, der Iltis», freut sich Christian Rechsteiner, der als Projektleiter der Abteilung Landschaft und Gewässer beim Kanton verantwortlich zeichnet für die Aue Reussegg.

Vom Artenreichtum her sind Auen quasi die Regenwälder der Schweiz. Doch sind sie nicht nur Quellen der Biodiversität, sondern auch enorm wichtig für uns Menschen. Auengebiete können grosse Mengen von Wasser aufnehmen und sind daher ein guter Schutz vor extremen Hochwassern, die im Zuge der erhöhten Temperaturen häufiger auftreten. 2005 war das Gebiet der Reussegg komplett unter Wasser, überschwemmt von der in ein enges Flussbett gezwängten Reuss.
Der Wasserreichtum von Auen und der damit verbundene hohe Grundwasserspiegel sind ausserdem eine wichtige Reserve für Dürreperioden. Und nicht zuletzt sind die renaturierten Gewässerlandschaften wertvolle Erholungsgebiete: Wie ist es doch entspannend, an einem freien Tag durch eine Aue zu streifen, dem Gesang der Vögel zu lauschen und die Vielfalt der Natur auf sich wirken zu lassen!
Doch nicht immer waren Flüsse etwas Beruhigendes. Für unsere Vorfahren bedeuteten sie vor allem Gefahr. Daher verbauten die Menschen Flüsse, begradigten sie, zwängten sie in Kanäle, befestigten die Ufer mit Dämmen, bremsten das Wasser mit zahllosen Schwellen – kurz: Sie zähmten die Flüsse, und damit verschwanden die Auen, welche auf temporäre Überschwemmungen angewiesen sind.


Gleichzeitig wurden Feuchtgebiete grossflächig trockengelegt. Damit setzte vor 200 Jahren eine gigantische Entwässerung der hiesigen Landschaft ein. Mit ein Grund war auch der Gewinn von zusätzlichem Ackerland. Noch heute finden sich in der Landschaft Gedenksteine, die an den Kampf gegen den feuchten Untergrund erinnern.
Ein Umdenken fand ab den 1980er-Jahren statt. Fachleute erkannten die massive Austrocknung der Landschaft als eine von mehreren Ursachen für den zunehmenden Verlust der Biodiversität. Das revidierte Gewässerschutzgesetz von 2011 verlangt, dass unsere Gewässer wieder lebendiger, artenreicher und damit naturnaher werden. In der Schweiz gibt es rund 65 000 Kilometer Bäche und Flüsse, 14 000 Kilometer davon sind verbaut und begradigt oder in den Untergrund verbannt. Das Gesetz verpflichtet die Kantone, bis ins Jahr 2090 ein Viertel der begradigten und verbauten Gewässer wieder in einen naturnahen Zustand zu bringen – sie zu revitalisieren, sie wieder zu beleben. Laut dem Bundesamt für Umwelt (Bafu) sind bisher erst 215 Kilometer Fliessgewässer revitalisiert.
Auen wollen gepflegt werden
Jeder Kilometer Fluss, der wieder frei fliessen kann, und jeder wiederhergestellte Quadratkilometer Sumpflandschaft bietet eine Erholung und eine Regeneration für die Natur. Bereits sind in der ganzen Schweiz Dutzende Flussabschnitte renaturiert worden, nebst der Reuss bei Sins etwa auch der Inn bei Bever GR, die Aare bei Rubigen BE oder das Reussdelta bei Flüelen UR.
Der Wechsel zwischen nass und trocken in den Auen schafft einzigartige Lebensbedingungen für Tiere und Pflanzen. Viele Arten haben sich daran angepasst. Doch kann man die Auen nicht sich selbst überlassen, da in der kleinräumigen Schweiz Auengebiete nicht gross genug sind, um sich selbst zu regenerieren. «Wir müssen sie pflegen und dafür sorgen, dass sie instand gehalten werden», sagt Matthias Betsche, Geschäftsführer von Pro Natura Aargau. Die Umweltschutzorganisation ist zusammen mit dem Kanton verantwortlich für die Realisierung der Aue Reussegg.
Schutz vor dem Verwalden
«Wenn wir in 30 Jahren wieder hier zusammenkommen», sagt Matthias Betsche, «und in der Zwischenzeit nichts gemacht worden wäre, dann sähe das hier nicht mehr gleich aus. Wir würden dann kein Auenfest feiern, sondern ein Waldfest.» Da der Fluss ständig neue Nährstoffe ins Gebiet bringt, würde ohne Pflegemassnahmen bald ein üppiger Wald wachsen und die offenen Flächen mit den seltenen Pflanzen und Tieren verdrängen.
Hier kommt die Landwirtschaft ins Spiel. Sie sorgt mit dafür, die Auen zu erhalten. Früher schnitten Bäuerinnen und Bauern die Streuwiesen in den Feuchtgebieten und verhinderten so das Verbuschen und Verwalden. Heute besorgen das vierbeinige Helfer. Im Gebiet der Aue Reussegg sind es die Wasserbüffel von Landwirt Josef Villiger. «Im Gegensatz zu Kühen können Wasserbüffel älteres, faserreiches Gras verwerten», sagt der innovative Landwirt und fährt fort: «Weil der Wasserbüffel nicht gut schwitzen kann, muss er ab 25 Grad eine Möglichkeit haben, sich abzukühlen. Dazu ist der Auenpark mit seinen vielen Weihern und wasserreichen Seitenarmen ideal.» Der Wasserbüffel ist durch seine breiten Klauen bestens an die Auen angepasst und kann sich im Morast gut fortbewegen. Er ist der ideale Gärtner: Er sorgt dafür, dass das Gebiet nicht überwuchert wird.

Die Aue Reussegg bietet verschiedene Lebensräume, erklärt Projektleiter Christian Rechsteiner: «Es gibt Tümpel mit Flachwasserzonen, die sich rasch erwärmen, was die Entwicklung der Amphibien beschleunigt.» Die Tümpel trocknen im Winter aus, was notwendig ist, damit sich darin nicht Fische etablieren können, die dann den Amphibienlaich fressen würden. In anderen Bereichen mit durchfliessendem Wasser gibt es für Fische ein Auskommen: Dort haben Bauarbeiter sogenannte Raubäume versenkt, Bäume, welche im Wege standen und gefällt werden mussten und die nun mit ihren Ästen unter Wasser als Verstecke für die Fische dienen.
Auf diese Weise bietet die Aue Reussegg mit ihren Kiesbänken und Sandbuchten, mit stillem Wasser und rasanter Strömung, tiefen, kühlen Becken und lauwarmen Uferzonen sowie feuchten wie auch trockenen Standorten einer Vielzahl von Tieren einen Lebensraum. Und die renaturierte Flusslandschaft ist eine Oase, wo auch der Mensch sich erholen kann. Das fördert nicht nur das Verständnis für, sondern auch die Liebe zur Natur.
Drei beispielhafte Renaturierungs-Projekte
Das Reussdelta bei Flüelen UR

In den vergangenen 100 Jahren haben die Begradigung der Reuss und der Kiesabbau dazu geführt, dass das Südufer des Urnersees erodierte und für die Unterwasserflora und -fauna wichtige Flachwasserzonen verloren gingen. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken und das Reussdelta aufzuwerten, wurde bis 1991 der Reusskanal um rund 300 Meter rückgebaut und das Delta über Seitenarme geöffnet. Ausserdem wurde ein Teil der verlorenen Flachwasserzonen am Südufer des Urnersees zwischen 2001 und 2008 mit sauberem Gesteinsmaterial vom Gotthard-Basistunnel und vom Flüeler Umfahrungstunnel wiederhergestellt. Seither ist die Dynamik des neu entstehenden Deltas in vollem Gang. Es bilden sich laufend neue Kies- und Sandbänke, Flachinseln und wechselnde Abflüsse.
Der Inn bei Bever GR

Anstatt den sanierungsbedürftigen Damm entlang des Inns an gleicher Stelle zu erneuern, entschied sich die Gemeinde Bever, den Fluss aus seinem Korsett zu befreien und ihm mehr Platz zu geben. So gruben die Arbeiter neue Bachläufe aus: Sie schlängeln sich den Damm entlang bis zur Gemeindegrenze. Heute kann der Inn auf einer Breite von 210 Metern und einer Länge von 610 Metern insbesondere bei Hochwasser selbst seine Flusslandschaft gestalten. Es hat Kiesbänke, Buchten, verschiedene Tiefen; Bereiche, wo das Wasser schnell fliesst, und solche, wo das Wasser langsam fliesst. Nach vielen Jahrzehnten ist die nötige Dynamik zurück im Auengebiet. Pflanzen wie Weiden und Erlen sind darauf spezialisiert, immer mal wieder überschwemmt zu werden und anschliessend im Schlamm zu stehen.
Die Aare bei Rubigen BE

Die Hunzigenau bei Rubigen wurde 2006 renaturiert, nicht zuletzt wegen der beiden Hochwasser 1999 und 2005, welche die Autobahn überfluteten. Die Aare erhielt mehr Platz, die früheren steilen Ufer wurden durch flache ersetzt. Durch neue Seitenarme entstanden zwei Inseln. Dank der Verbreiterung der Aare und dem Aufteilen in Haupt- und Nebenarme hat der Fluss heute eine langsamere Geschwindigkeit. Gemächlich fliesst der Nebenarm oberhalb der Hunzigenbrücke durch das Gelände. Dadurch kann sich Feinkies im Flussbett ablagern, was für Fische wie die selten gewordene Äsche unabdingbar ist. Denn nur in diesem lockeren Gestein können die Äschenweibchen ihre Eier vergraben. Die aufgewertete Uferzone wird auch von den Menschen aus der Region als Naherholungsgebiet genutzt.
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