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Zweiter Wahlgang in Genf
So nahbar und doch nicht zu fassen: Der zahme Protestler macht die Linke nervös

Le candidat MCG a l'election du Conseil d'Etat Mauro Poggia arrive a Uni Mail lieu de depouillement centralise pour l'election du Grand Conseil et du premier tour de l'election du Conseil d'Etat 2018, ce dimanche 15 avril 2018 a Geneve. (KEYSTONE/Salvatore Di Nolfi)
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Die Linke ist nervös. Die bürgerliche Mitte hat sich aus dem Wahlrennen verabschiedet, und die Rechte wittert ihre Chance, einen Ständeratssitz zu ergattern. Das sind die Befindlichkeiten in Genf vor dem zweiten Wahlgang der Ständeratswahlen. Am 12. November fällt das Volk seinen Entscheid. 

Alle Zeichen deuten auf ein Herzschlagfinale hin – und eine dicke Überraschung. Im ersten Wahlgang hievten die Genferinnen und Genfer einen Kandidaten an die Spitze des Feldes, den nicht viele dort erwartet hatten: Mauro Poggia. Einen Politiker, den stets alle der populistischen Rechten zuordnen, der im Wahlkampf nun aber pointiert links auftrat, sich über sein Parteiprogramm hinwegsetzte und trotzdem authentisch wirkte. Im ersten Wahlgang kamen 20 Prozent der Stimmen für Poggia aus dem linken Lager. Das ist bemerkenswert. 

Wer ist der Mann? Und was macht ihn so erfolgreich?

Bis zum Frühling sass der 64-Jährige für die stets laute und oft schrille Protestpartei Mouvement Citoyens Genevois (MCG) in der Genfer Regierung (siehe Box). Nach seinem Rücktritt als Gesundheitsdirektor liess sich Poggia als National- und Ständeratskandidat aufstellen. Der MCG einigte sich mit der Mitte-Partei, der FDP und der SVP auf eine Allianz. Bei den Wahlen zeigte sich, dass die bürgerliche Allianz vor allem einem nützt: Mauro Poggia. 

Er distanzierte die amtierenden Ständeratsmitglieder Lisa Mazzone (Grüne) und Carlo Sommaruga (SP) um einige Hundert Stimmen. Um gleich mehrere Tausend Stimmen deklassierte Poggia die Nationalratsmitglieder Céline Amaudruz (SVP), Simone de Montmollin (FDP) und Vincent Maitre (Mitte), die ebenfalls in die kleine Kammer drängten.

De Montmollin und Maitre warfen das Handtuch. Zum Schlussspurt am 12. November tritt Poggia an der Seite von SVP-Frau Amaudruz an. In den Nationalrat wurde Poggia bereits gewählt. Dort sass er schon von 2011 bis 2013, ohne einer Fraktion anzugehören.

Plaudereien auf dem Marktplatz

Ziemlich tiefenentspannt flaniert Poggia Mitte letzter Woche durch die Marktstände im Genfer Stadtteil Rive, verteilt Flyer und nette Worte. Auf die Leute muss er nicht zugehen. Sie steuern von selbst auf ihn zu.

«Wir haben zusammen Karate gemacht», erinnert sich ein älterer Herr. «Ah, ja», nickt Poggia und erkundigt sich, wie es seinem Körper denn so gehe. Na ja, das Knie habe schon gelitten, sagt der Mann. «Wir werden alle älter», tröstet ihn Poggia. 

Gleich mehrere Leute sprechen Poggia, den Sohn italienischer Gastarbeiter, in seiner Muttersprache Italienisch an. Es entwickeln sich lebhafte Plaudereien. Eine Frau sagt: «Ich habe nur einen Wunsch: Ich möchte Ihnen einfach die Hand geben und danken, voilà!» Sagt es und ist wieder weg. Danken wofür?

«Viele Genferinnen und Genfer sind Mauro Poggia dankbar dafür, wie er sie als Gesundheitsdirektor durch die Covid-Pandemie begleitet hat.»

Pascal Sciarini, Politologe Universität Genf

«Viele Genferinnen und Genfer sind Mauro Poggia dankbar dafür, wie er sie als Gesundheitsdirektor durch die Covid-Pandemie begleitet hat», sagt Pascal Sciarini, Professor für Politologie an der Universität Genf. Poggia sei regelmässig in der Westschweizer «Tagesschau» und im Lokalfernsehen Léman Bleu aufgetreten, habe die Gründe für Schutzmassnahmen einfach und schnörkellos erklärt, keine falschen Versprechungen gemacht und dazu aufgerufen, weder Ressentiments gegen den Bund noch gegen Massnahmengegner zu hegen, so Sciarini. Viele halten Poggia für einen «schützenden Vater in schwierigen Zeiten». 

Le professeur Pascal Sciarini, du Département de Science Politique et Relations Internationales de l’Université de Genève. Photo LUCIEN FORTUNATI

Dazu komme, so der Politologe, dass Poggia in seinen zehn Jahren als Regierungsrat keine grossen Fehler begangen habe, aber auch nicht dafür bekannt gewesen sei, heikle Entscheide zu treffen. «Von links bekommt Poggia auch darum Stimmen, weil er an der Seite des ehemaligen Waadtländer Gesundheitsdirektors Pierre-Yves Maillard für die Schaffung staatlicher Krankenkassen kämpfte», so Sciarini.

Die Krankenkassenprämien und das Schweizer Gesundheitssystem: Darüber spricht Poggia im Wahlkampf ununterbrochen. Dauerkritik und Gehässigkeiten gegen französische Grenzgänger, die Genfern angeblich Arbeitsplätze wegnehmen, überlässt er hingegen Parteikollegen. So hat er es meistens gehalten. Dies hängt wohl auch mit seiner eigenen Vergangenheit zusammen. 

Sohn von Gastarbeitern

Poggias Eltern kamen einst als piemontesische Gastarbeiter in die Schweiz. Der Vater war Fräser, die Mutter Näherin. Mauro Poggia träumte schon als Kind davon, Rechtswissenschaften zu studieren, Anwalt zu werden, um Opfern von was auch immer beizustehen. Er erfüllte sich seinen Traum. Bekanntheit erlangte er als Anwalt von Opfern medizinischer Behandlungsfehler. Poggia lehrte Ärzten und Klinikchefs das Fürchten. Man spürt: Er mag Menschen, egal wo sie im Leben stehen. Was in seiner Biografie auch auffällt: Der Katholik heiratete eine Sufistin und konvertierte zum muslimischen Glauben.

«Wir brauchen eine gute und solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung für alle.»

Mauro Poggia, MCG-Politiker

«Wir brauchen eine gute und solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung für alle», sagt Poggia auf dem Wochenmarkt. Das sei die Basis einer gerechten Sozialpolitik und ein wichtiges Mittel gegen eine Zweiklassengesellschaft. Am Anliegen, kantonale Krankenkassen gründen zu dürfen, hält er fest – und fordert nun darüber hinaus, die Grundversicherung zu entlasten, indem die Krankenkassen nicht mehr für die Gesundheitsversorgung in Alters- und Pflegeheimen oder auch für die Palliativmedizin aufkommen müssen. «Das Altern ist ein unvermeidlicher Prozess. Für Altersgebrechen sollen Junge nicht bezahlen, vielmehr muss der Staat andere Finanzierungsquellen finden», findet Genfs ehemaliger Gesundheitsdirektor.

«Ich bin kein Lobbyist.»

Mauro Poggia, MCG-Politiker

Poggia, der gern gegen politische Lobbyisten schimpft, sitzt ab Januar 2024 in einem Verwaltungsrat und lässt sich sein Mandat gut bezahlen. 40’000 Franken pro Jahr kassiert er für seine Tätigkeit für den Walliser Spitalverbund. Dafür musste er in Genf Kritik einstecken. Er wischt sie weg. «Ich arbeite nicht für ein privates Spital, sondern für kantonale Spitäler und damit das öffentliche Interesse. Ich bin kein Lobbyist», sagt er.

Genève, le 1 novembre 2023. Tribune de Genève: débat au sujet des élections fédérales pour la chambre haute (des Etats) pour le deuxième tour avec: Lisa Mazzone, Les Verts, Carlo Sommaruga, PS et Céline Amaudruz, UDC, Mauro Poggia, MCG.

Poggia zu kritisieren oder gar zu diskreditieren: Das war für seine Gegner immer schwer. Auch in diesen Tagen und auch für Lisa Mazzone (Grüne) und Carlo Sommaruga (SP), die ihre Ständeratssitze verteidigen wollen. Das zeigt sich Stunden nach seiner Flyeraktion auf dem Wochenmarkt. Poggia, Amaudruz, Mazzone und Sommaruga kommen für eine Wahldebatte auf der Redaktion der Zeitung «Tribune de Genève» in einem improvisierten Fernsehstudio zusammen. 

Hilfe für AHV-Bezüger

In der Debatte geht es um den Stellenwert von Genf in Bern und bald auch um das Thema Migration. An der Seite Amaudruz’ und als rechter Kandidat wird Poggia gegen Migranten und Grenzgänger austeilen, denkt man sich – und liegt komplett falsch. Er sagt: Als Regierungsrat sei er für das Asylwesen verantwortlich gewesen und wisse heute: «Es gibt nicht den guten und den schlechten Asylsuchenden.» Und auch: «Die Grenzen zu schliessen, ist schlicht lächerlich und nicht praktikabel.» Man müsse sich viel mehr überlegen, Entwicklungsgelder zu erhöhen. Poggia tönt wie ein Linker, entgegen dem in weiten Teilen rechtspolitischen Programm seiner Partei. Auch als er später betont: «Wir müssen die Hilfe für AHV-Bezüger erhöhen. Ob wir das mit einer 13. AHV-Rente tun sollen, da bin ich mir noch nicht sicher.»

Genève, le 1 novembre 2023. Tribune de Genève: débat au sujet des élections fédérales pour la chambre haute (des Etats) pour le deuxième tour avec: Lisa Mazzone, Les Verts, Carlo Sommaruga, PS et Céline Amaudruz, UDC, Mauro Poggia, MCG.

Er wolle weder links noch rechts stehen, sich nicht an politischen Gegnern abarbeiten, sondern sei an Dialog, Konsens und Lösungen interessiert, betonte Poggia auf dem Wochenmarkt und nun auch in der Debatte. Seine politische Heimat in Bern sieht er in der Fraktion der Mitte-Partei, während sein ebenfalls nach Bern gewählter MCG-Kollege die SVP favorisiert. 

Poggias Gegner prophezeien ihm, dass die Mitte-Fraktion im Bundeshaus ihn nicht aufnehmen wird, und auch einen Sitz in der Gesundheitskommission könne er als Parlamentsneuling niemals erlangen. Das Gegenteil können sie aber ebenso wenig beweisen. Poggia selber sagt: «Ich werde mit einer Fraktion zusammenarbeiten. Ein freies Elektron werde ich nicht sein.» 

Falls er denn gewählt wird. Seine Chancen: ziemlich gut.