Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Polizistenmangel in Zürich
Frust, Pannen und Austritte – Was ist bei der Stadtpolizei los, Herr Karlen?

Portrait von Werner Karlen, Praesident des Polizeibeamtenverbandes der Stadt Zuerich, rechts, und sein Vorstandsmitglied Daniel Gmuer, Co-Bereichsleiter der Sicherheitspolizei Stapo.
01.10..2024
(Tages-Anzeiger/Urs Jaudas)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Es gibt wohl wenige, die einen so tiefen Einblick in die Zürcher Polizeilandschaft haben wie Werner Karlen. Bis 2019 war er als Einsatzleiter in der Interventionseinheit Skorpion tätig, die beispielsweise bei Geiselnahmen und für den Schutz von Staatsbesuchen aufgeboten wird. Heute leistet der 61-Jährige altershalber nur noch sporadisch Aussendienst.

Doch seit fast drei Jahrzehnten hat Werner Karlen noch eine andere Aufgabe: Seit 1997 ist er Präsident des Polizeibeamten-Verbandes der Stadt Zürich. Als oberster Personalvertreter im drittgrössten Polizeikorps der Schweiz vertritt er die Interessen von mehr als 2000 Mitarbeitenden gegenüber der Arbeitgeberin Stadtpolizei Zürich. Dabei spricht Karlen immer wieder personelle und strukturelle Mängel an.

Die letzte Mitarbeitendenbefragung bei der Stadtpolizei Zürich zeigte 2022 viel Frust, unter anderem wegen weniger freier Wochenenden. Wie nehmen Sie die Stimmung aktuell wahr?

Ich glaube, die meisten kommen noch gern zur Arbeit. Aber die Stimmungslage ist nach wie vor nicht gut. Wir haben vielschichtige Probleme, und es braucht von den einzelnen Mitarbeitenden über die Führungskräfte bis zur Politik alle, um an Lösungen zu arbeiten.

Welche Probleme gibt es konkret?

Über sechs Jahre lang ist der Personalbestand bei der Stadtpolizei falsch ausgewertet worden. Statt einen Mittelwert zu verwenden, wurde die Belegschaft immer genau an den Tagen gezählt, an denen eine neue Klasse der Zürcher Polizeischule ihren Dienst bei der Stadtpolizei aufgenommen hat. Dadurch ist das damalige Kommando von einem vermeintlichen Überbestand an Personal ausgegangen, den es abbauen wollte. Aber schon kurz nach den Stichtagen gab es jeweils Pensionierungen und Kündigungen. Durch diese Verzerrung gingen 60 Stellen bei der Sicherheitspolizei, die Anzeigen entgegennimmt, in den Streifenwagen unterwegs ist und bei Demonstrationen eingesetzt wird, verloren.

Wie konnte das passieren?

Bis 2015 hat die Stadtpolizei pro Jahr 65 neue Polizeischülerinnen und -schüler rekrutiert, diese Zahl wurde wegen des vermeintlichen Überbestands von 2015 bis 2021 auf 50 gesenkt. Das allein wäre noch gar nicht so schlimm gewesen. Gravierend war, dass in diesen sechs Jahren nicht einmal die vollen 50 Stellen pro Jahr, die bewilligt und finanziert waren, rekrutiert wurden. In einem Jahr waren es sogar nur 39 Polizistinnen und Polizisten. Insgesamt blieben so 60 Stellen unbesetzt, obwohl sie budgetiert waren. Sie fehlen uns bis heute. Der Fehler wurde erst entdeckt, als die Personalbestände so schlecht waren, dass etwas getan werden musste.

Was sind die Folgen des jahrelangen Personalmangels?

Eine Konsequenz war die Schliessung der Regionalwache Industrie im Kreis 5 per 1. September 2024. Über 70 Mitarbeitende wurden versetzt, hauptsächlich in die Regionalwache Aussersihl. Zusammenlegungen von Wachen und somit die Bündelung der Kräfte geschehen allerdings nicht nur aus der Not heraus: Im Sommer 2024 hat der Stadtrat die neue Standortstrategie nochmals bestätigt. Bis circa 2034 soll es nur noch drei Stützpunkte der Sicherheitspolizei geben.

Wer ist aus Sicht des Polizeibeamten-Verbands für die Schwierigkeiten verantwortlich?

Die damalige Geschäftsleitung der Stadtpolizei. Wir Personalvertreter haben ja gesehen, was auf den Wachen los war: Die Aufgaben nahmen stetig zu und das Personal wurde immer knapper. Wir haben diese Probleme auf Kommando-Ebene öfter angesprochen, aber die Verantwortlichen stellten sich auf den Standpunkt, dass die Fluktuation im normalen Bereich sei.

Hat sich unter der neuen Führung um den seit 2022 amtierenden Kommandanten Beat Oppliger etwas geändert?

Ja, seit 2022 werden pro Jahr wieder 70 statt wie zuvor 50 Abgängerinnen und Abgänger der Polizeischule rekrutiert. Ab 2025 werden es sogar 90 sein, um die anstehenden Pensionierungen der Generation Babyboomer abzufedern und damit wir personell nicht noch mehr ins Minus kommen. Deshalb wird es ab kommendem Jahr auch vier statt drei Klassen in der Zürcher Polizeischule geben. So richtig spüren werden wir die Aufstockung aber erst nach dem Ausbildungsende nach zwei Jahren, also ab Herbst 2027.

Sie haben die Ergebnisse der Mitarbeitendenbefragung mit Kommandant Oppliger besprochen. Was ist dabei herausgekommen?

Dem Kommandanten sind die Belastungen sehr wohl bewusst, das spüren wir als Polizeibeamten-Verband auch in den direkten Gesprächen. Eine Konsequenz sind die angepassten Öffnungszeiten in allen Regionalwachen. Nachts und sonntags sind die Wachen grundsätzlich geschlossen. Das heisst nicht, dass dort nichts mehr getan wird. Ein Raubüberfall wird natürlich weiterhin bearbeitet, aber einen Velodiebstahl kann man dort in der Nacht nicht mehr anzeigen. So läuft es übrigens im Kanton schon lange.

100 Polizistinnen und Polizisten sind 2023 bei der Stadtpolizei Zürich laut aktuellen Zahlen des Stadtrats aus dem Dienst ausgeschieden – mehr als doppelt so viele wie 2018. Im ersten Halbjahr 2024 waren es mehr als 50 Kündigungen und Pensionsantritte. Worauf führen Sie die vielen Abgänge zurück?

Wir führen oft Gespräche mit Mitgliedern des Polizeibeamten-Verbands, die gekündigt haben. Etliche davon wechseln beispielsweise zu einer Gemeindepolizei, wo sie in der Regel deutlich weniger belastende Arbeitsbedingungen vorfinden. Dort gibt es häufig keine oder wenn, dann nur verkürzte Nachtdienste, erheblich weniger Wochenenddienste und zudem keine Demos, Häuserbesetzungen, Hochrisiko-Fussballspiele oder Grossveranstaltungen. Polizeibeamte sagen deshalb offen, dass sie es in den Gemeinden besser hätten, obwohl die Stadt eigentlich eine gute Arbeitgeberin ist. Es sind uns Fälle von Polizisten bekannt, die sogar Lohneinbussen bis zu 1000 Franken pro Monat in Kauf nehmen.

Portrait von Werner Karlen, Praesident des Polizeibeamtenverbandes der Stadt Zuerich, rechts, und sein Vorstandsmitglied Daniel Gmuer, Co-Bereichsleiter der Sicherheitspolizei Stapo.
01.10..2024
(Tages-Anzeiger/Urs Jaudas)

Dem Vernehmen nach soll die Stadtpolizei das Mitte September besetzte Kasernenareal nur deshalb nicht geräumt haben, weil die Rad-WM einen Grossteil der Ressourcen gebunden hat.

Das kann ich nicht beurteilen. Eine Besetzung ist ein ausserordentliches Ereignis, das viele Einsatzkräfte benötigt. Wegen der Rad-WM hatten wir schon lange eine Urlaubssperre für die ganze Belegschaft. Normale Ferienkontingente wurden zwar bewilligt, aber keine zusätzlichen freien Tage. Wir stellen fest, dass kurzfristige Urlaubssperren öfter verhängt werden, wenn Ereignisse nicht mit den ordentlichen Einsatzkräften bewältigt werden können. Darunter sind auch die Bürgenstock-Konferenz oder eine UNO-Konferenz in Genf. Bei wiederkehrenden Grossveranstaltungen wie dem WEF, dem Sechseläuten und der Street Parade gelten schon länger Urlaubssperren.

Um diese Grossevents abzudecken und die zuständige Polizei zu entlasten, gibt es das System der Interkantonalen Polizeieinsätze (Ikapol). Geht das für die Stadtpolizei auf?

Das Ikapol-System gewährleistet zwar, dass sich die Korps untereinander aushelfen. Aber eigentlich hat keine Stadt- oder Kantonspolizei der Schweiz die Personalreserven, um andere Korps zusätzlich zu unterstützen. Viele Polizistinnen und Polizisten kommen von Ikapol-Einsätzen mit zahlreichen Überstunden zurück. Wenn sie diese beziehen, fehlen sie im eigenen Korps ein zweites Mal. Für uns Personalvertreter kann es das nicht sein. Die Personalsituation bei der Zürcher Stadtpolizei ist zu schlecht, als dass wir es uns leisten könnten, unsere Leute abzugeben. Seit 1. Juli werden die Ikapol-Stunden bei uns ausbezahlt.

Vor einigen Monaten untersuchte ein Bericht die Arbeitsbedingungen bei der Basler Stadtpolizei. Er zeigte unter anderem mangelnde Kommunikation und massives Misstrauen gegenüber den Chefs. Wie würde das Ergebnis bei der Stadtpolizei Zürich ausfallen?

Ein direkter Vergleich mit Basel ist nicht möglich, da die Schwierigkeiten dort weit über Kommunikation und Misstrauen in die Chefs hinausgehen. Aber ab einer gewissen Grösse gibt es in jedem Korps Kommunikations- und Vertrauensprobleme. Auch bei uns ist das so.

In den letzten Monaten hat die Stadtpolizei ein neues Schichtmodell, das Entlastung bringen soll, getestet. Wie läuft das Projekt?

Das Pilotprojekt «Optima» in der Regionalwache Oerlikon hat im Januar begonnen und wird bis Ende Oktober ausgewertet. Durch das neue Schichtmodell sollen mehr Polizistinnen und Polizisten künftig zwei freie Tage am Stück erhalten, wie es bei vielen Arbeitnehmenden am Wochenende der Fall ist. Gleichzeitig soll an einsatzintensiven Wochenenden mehr Personal bereitstehen. 

Das klingt nach einer Win-win-Situation.

Wir erkennen Potenzial, aber auch Schwächen. Für das Pilotprojekt wurde das Personal in der Regionalwache Oerlikon erhöht, was den Mitarbeitenden dort entgegenkommt. Dies erfolgte jedoch zulasten der anderen, unterbesetzten Regionalwachen. Bei einer Umsetzung mit den heutigen Personalbeständen wären Probleme vorprogrammiert. Ein neues Arbeitszeitmodell wird die strukturellen Defizite nicht lösen.

Neben Basel soll es auch bei den Stadtpolizeien Winterthur und Bülach Versäumnisse von Führungskräften gegeben haben. Ist das Polizeiwesen in einer Krise?

Nein. Wenn sich Probleme entwickeln, muss man sie als Führungskraft erkennen und Lösungen finden, um ihnen entgegenzutreten. Ich habe Mitarbeitende, bei denen es wegen der Arbeit und der Dienstplanung fast zu Scheidungen gekommen wäre. Ich kann als Vorgesetzter sagen, dass mich das nicht interessiert, weil ich einfach das geforderte Personal stellen muss. Oder ich berücksichtige die Bedürfnisse meiner Mitarbeitenden und suche nach Lösungen. Erfahrungsgemäss findet sich in den meisten Fällen ein Ersatz, der einspringt – sofern er nicht das Gefühl bekommt, dass alles nur eine Einbahnstrasse ist.