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Horrortat im HB Zürich
Eritreer verprügelte zwei Frauen, nun muss er zehn Jahre hinter Gitter

Gerichtszeichnung einer Verhandlung am Bezirksgericht Zürich. Der Angeklagte steht im Vordergrund, links neben ihm sitzt die Staatsanwältin, rechts eine Dolmetscherin.
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In Kürze:
  • Ein Eritreer griff im Februar 2023 im Zürcher HB grundlos drei Menschen an.
  • Der Mann kann sich nur noch teilweise an die Tat erinnern. Sein Motiv bleibt verborgen.
  • Die Staatsanwältin verlangte zehn Jahre Freiheitsstrafe, die Verteidigerin fünf.
  • Sollte der Mann dereinst wieder freikommen, muss er das Land für 15 Jahre verlassen.

Die Staatsanwältin hat schon viel gesehen, immerhin arbeitet sie seit zwölf Jahren in der Abteilung für schwere Gewaltkriminalität. Dort also, wo Ermittlungen über die grausamsten Verbrechen geführt werden.

Doch die Aufnahmen einer Überwachungskamera, die sie an einem Februarmorgen im Jahr 2023 anschauen muss, übertreffen alles. «Das Gesehene überrollte mich mit voller Wucht, obwohl mich Kollegen vorwarnten», schildert sie den Moment. «Das Video ist absolut verstörend.»

Der gestochen scharfe Film zeigt eine Gewalttat, die sich am Vorabend ereignet hatte. Sonntagabend, 20 Uhr, Menschen fahren im Zürcher Hauptbahnhof auf der Rolltreppe hinunter auf das Perron 33/34. Darunter auch ein 26-jähriger Eritreer. Als sein Rollkoffer am Ende der Treppe kurz hängen bleibt, quetscht sich eine 55-jährige Italienerin an ihm vorbei. Und dann passiert es.

Der Eritreer geht unvorstellbar brutal auf die Frau los. Schlägt ihr ins Gesicht, und als sie zu Boden geht, tritt er zu. Immer wieder. Er traktiert sie derart, dass sie zahlreiche Brüche im Gesicht und am Körper erleidet. Bis heute ist sie entstellt, hat Schmerzen und ist arbeitsunfähig.

Passanten schreien «aufhören!», eine 16-Jährige will helfen, beugt sich zum Opfer, kassiert ebenfalls Tritte ins Gesicht. Ein weiterer Mann geht dazwischen, auch ihn greift der Eritreer an. Erst die Bahnpolizei kann den Rasenden stoppen.

Das Motiv? Daran erinnert er sich nicht

Jetzt, fast genau zwei Jahre später, muss sich der Mann wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und versuchter schwerer Körperverletzung vor dem Bezirksgericht Zürich verantworten. Die Staatsanwältin fragt in ihrem Plädoyer: «Geht es noch brutaler, noch menschenverachtender, noch skrupelloser?» Eine rhetorische Frage, wie sie selbst sagt. Die Tat sei die schlimmste, die sie je gesehen habe.

Der Eritreer selbst kann und will dazu nicht viel sagen. Zwar erinnert er sich an jenen verhängnisvollen Moment, daran, dass er zugeschlagen habe und dass er nachher befürchtet habe, die Frau sei tot. Aber warum er sie angriff? Was er mit seiner Tat erreichen wollte? «Ich erinnere mich nicht mehr.»

Was er noch weiss: An jenem Abend ist er zusammen mit seinem Bruder von einer Reise nach Äthiopien zurückgekehrt. Die beiden haben dort die Mutter besucht, die nach wie vor in Eritrea lebt. Es sei eine «sehr gute» Reise gewesen, sagt er.

Was er auch noch weiss: Im Hauptbahnhof trennen sich die beiden. Sein Bruder fährt nach Chur. Und er greift zur Flasche. Obwohl er weiss, dass ihm das nicht guttut, dass er «schlimme Dinge» macht, wenn er trinkt. Sechsmal ist er vorbestraft, unter anderem wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte, Körperverletzung, Hausfriedensbruch. Jedes Mal war Alkohol im Spiel. «Alkohol ist mein grösstes Problem», sagt er dem Richter. Während der Reise mit seinem Bruder habe er seinen Konsum im Griff gehabt: «Aber an jenem Abend habe ich einen Fehler gemacht.»

Die Sache mit der Schizophrenie

Dass er noch ein ganz anderes Problem hat, bestätigt er nur auf Nachfrage des Richters. Zum Zeitpunkt der Tat leidet er seit mindestens fünf Jahren an einer paranoiden Schizophrenie. Zwar ist er in Behandlung, er bekommt auch Medikamente. Aber die hat er wohl nicht eingenommen.

Unüblich ist das nicht. Es ist bekannt, dass etwa die Hälfte aller Schizophrenie-Betroffenen die verschriebenen Medikamente nicht oder nicht regelmässig nimmt, teils wegen der Nebenwirkungen, teils weil sie nicht einsehen, dass sie krank sind. Bei Eritreern kommt erschwerend der kulturelle Hintergrund hinzu: Psychische Erkrankungen werden in Eritrea oft stigmatisiert und als Ausdruck von Besessenheit angesehen. Viele misstrauen auch den Psychopharmaka. Betroffene lindern ihre Symptome stattdessen mit Alkohol.

Therapie statt Strafe

Die psychische Erkrankung ist der Grund, warum die Staatsanwältin für das schwere Verbrechen nur eine Strafe von 10 Jahren verlangt. Obwohl gemessen am Verschulden eigentlich eine solche von 17 Jahren angemessen wäre. «Der Beschuldigte hat sein bewusstloses Opfer wie eine Puppe gekickt. Ihr Leben hatte keinen Wert für ihn.»

Aber laut dem Gutachter ist der Mann mittel- bis hochgradig schuldunfähig. Deshalb bleibt der Staatsanwältin nichts anderes übrig, als die Strafe zu reduzieren. Allerdings fällt die Reduktion geringer aus, als bei einer solchen Diagnose möglich wäre. Denn der Mann hat seine Situation nach Ansicht der Staatsanwältin zumindest teilweise selbst verursacht: «Er hätte seine Medikamente nehmen können. Und er hätte nicht trinken müssen.»

Die Verteidigerin sieht das ganz anders. «Bei einer Sucht hat man keine Wahl, ob man trinkt oder nicht», sagt sie. «Und die fehlende Einsicht in die Krankheit gehört zur Schizophrenie.» Ihr Mandant habe sein Handeln schlicht nicht ausreichend steuern können. Deshalb sei eine Strafe von fünf Jahren angemessen.

Allerdings wird der Mann seine Strafe ohnehin kaum absitzen müssen. Denn die Staatsanwältin und die Verteidigerin sind sich zumindest darin einig, dass die Strafe zugunsten einer stationären Therapie aufgeschoben werden soll, um die Schizophrenie und die Alkoholabhängigkeit des Beschuldigten zu behandeln. Eine solche Massnahme dauert vorerst fünf Jahre, sie kann aber beliebig oft verlängert werden, bis die Rückfallgefahr gebannt ist. Die Behandlung hat bereits vorzeitig begonnen, seit fünf Monaten lebt der Mann in der Hochsicherheitsabteilung der psychiatrischen Klinik Rheinau.

Glück, dass niemand gestorben ist

Das Gericht folgt in seinem Urteil den Anträgen der Staatsanwältin, es verurteilt den Mann zu zehn Jahren Gefängnis. Der vorsitzende Richter hält aber auch fest, dass der Mann letztlich grosses Glück hatte, dass niemand ums Leben gekommen ist: «Die Italienerin wäre ohne sofortige medizinische Hilfe gestorben.»

Zu berücksichtigen sei, dass der Beschuldigte in seinem Handeln nicht so frei gewesen sei «wie ein gesunder Mensch». Das könne man ihm nicht vorwerfen, das gehöre zu seinen Krankheiten. Etwas anderes als eine stationäre Massnahme komme deshalb nicht infrage: «Und die dauert so lang wie nötig.»

Klar ist für das Gericht aber auch: Sollte der Mann irgendwann gesund werden, muss er das Land für 15 Jahre verlassen. Das Argument der Verteidigerin, in Eritrea drohten ihrem Mandanten Folter und Gefängnis, lässt das Gericht nicht gelten. Eine Landesverweisung allein deshalb nicht auszusprechen, sei nicht zulässig: «Wenn es eines Tages so weit ist, müssen die Behörden dann aufgrund der Situation entscheiden, ob eine Ausweisung möglich ist.»

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.