Zittern um EM-QualifikationBei Italien geht es schon wieder um alles
Europameister Italien bangt um die EM-Teilnahme – gegen seinen Angstgegner Nordmazedonien, ausgerechnet. Und der Stürmer, der am wenigsten Angst hat, spielt nicht.
Die Azzurri hoffen jetzt auf eine App, soweit ist es schon gekommen. Das Tool heisst Hudl, ist in den USA von der Firma Agile Sports Technologies Inc. entwickelt worden. Sportcoaches können darauf offenbar einfach Videoclips hochladen, taktische Lektionen, kleine Motivationsreden. Luciano Spalletti, Italiens neuer Commissario tecnico, befüllt die App zusammen mit seinen Spielanalysten. So steht den Spielern die Gedankenwelt des Trainers immer offen, auch fürs Studium im Homeoffice, wenn sie für ihre Vereine aktiv sind, und im Hotelzimmer, wenn sie mit der Nazionale unterwegs sind. Etwa Spallettis hohes Pressing und die Gegenaggression nach Ballverlust – die Konzepte sollen sich wie Mantras in die Köpfe der Fussballer brennen. Es geht ja auch erneut um alles.
Italien bangt wieder mal um die Qualifikation für ein grosses Turnier: Nach zwei verpassten WM-Endrunden in Folge hängt die Teilnahme bei der EM in Deutschland noch immer in der Luft – als amtierender Europameister, wohl gemerkt. Ist es nicht unfair, fragen die Italiener bei der Gelegenheit, dass es für Titelhalter in Europa kein Recht auf eine automatische Teilnahme am nächsten Turnier gibt, wie das bis vor kurzem bei Weltmeistern der Fall ist?
Die Szenarien für ein Déjà-vu mit «unserem Albtraum»
Zwei Spiele bleiben den Italienern noch in der Gruppe C, man ist Dritter. England ist bereits qualifiziert, recht locker. Die Ukraine liegt mit drei Punkten Vorsprung auf Italien an zweiter Stelle, hat allerdings ein Spiel mehr ausgetragen. Und hinter Italien kommt Nordmazedonien, ja, ausgerechnet «Angstgegner Nordmazedonien», das «Schreckgespenst», «unser Albtraum» – so nennen Italiens Medien die Nummer 66 im Ranking der Fifa seit einer Nacht in Palermo im Frühling 2022, von der gleich noch die Rede sein soll.
So sieht es nun aus: Gewinnt Italien an diesem Freitagabend im fast ausverkauften römischen Olympiastadion gegen Nordmazedonien, würde ein Unentschieden gegen die Ukraine am kommenden Montag in Leverkusen reichen, um sich als Zweiter direkt für das Turnier zu qualifizieren – bei Punktgleichheit zählt nämlich der Direktvergleich, und die Italiener haben die Ukrainer im Hinspiel 2:1 besiegt. Gewinnt Italien allerdings nicht gegen Nordmazedonien, dann müsste es die Ukraine schlagen, zwangsläufig. Denn als Dritte oder Vierte stünde noch eine Prüfung an, die man sich aus trister Erfahrung lieber ersparen würde: Nations-League-Playoff, im Frühjahr 2024.
Damit nun zurück in die Frühlingsnacht von Palermo, 24. März 2022, dem Stachel in der Psyche des nationalen Calcio. Damals waren die Italiener an der direkten Qualifikation für die WM in Katar gescheitert und mussten in die Playoffs, zwei Spiele.
Dann traf Trajkovski – in der 92. Minute, und der Frühling war vorbei
Das erste Spiel, gegen Nordmazedonien, galt als Formsache. Palermos Stadion Renzo Barbera schien die richtige Adresse zu sein, ein kompaktes, volles Stadion, viel Euphorie. Doch dann passierte das Unglück: Der nordmazedonische Stürmer Aleksandar Trajkovski, der früher vier Jahre lang für Palermo in ebendiesem Stadion gespielt hatte, der die Windverhältnisse darin kennt, die Beschaffenheit des Rasens, die ganze Dynamik des «Barbera»- dieser Aleksandar Trajkovski traf in der 92. Minute zum 1:0.
Die Formalität wurde zum fantasma, zum Gespenst. Überhaupt: Nordmazedonien! Insgesamt vier Mal hat Italien bisher gegen Nordmazedonien gespielt, nur einmal hat es gewonnen, und das ist lange her: 2016 in Skopje, dank eines Treffers in der Nachspielzeit von Ciro Immobile – 3:2. Ein Kampf, auch da. Von allen Spielern der Italiener scheint Immobile noch am wenigsten beeindruckt zu sein von der vermeintlichen Übermacht: Er traf schon dreimal gegen diese Nordmazedonier, keine schlecht Quote. Doch in Rom wird Immobile nicht dabei sein. Er sei ausser Form, sagt Spalletti.
Eine Rückkehr mit ironischer Note
Im Angriffzentrum soll wohl Giacomo Raspadori zum Einsatz kommen, der Mittelstürmer von Napoli. Und sollte der nicht treffen, sässen da noch Gianluca Scamacca von Atalanta Bergamo und Moise Kean von Juventus Turin auf der Bank, um nur die Rollenspieler zu nennen, die Neuner. Am meisten Aufmerksamkeit wird aber wohl auf einen Rückkehrer fallen, bei dem man sich schon gefragt hatte, ob er jemals wieder azurblau tragen würde: Jorginho, 31 Jahr alt, Italobrasilianer im Dienst vom FC Arsenal. Er gibt wieder den Regisseur, wie bei der gewonnenen EM, den Tempomat im Zentrum.
Und das ist auch nicht ganz ohne Ironie: Mit seinem verschossenen Elfmeter im WM-Qualifikationsspiel gegen die Schweiz im Herbst 2021 hatte Jorginho den Italiener die Frühlingsnacht von Palermo eingebrockt. Als er nun gefragt wurde, ob er denn bereit wäre, einen Strafstoss zu treten, wenn es einen gäbe gegen Nordmazedonien, sagte er: «Ja, ich spüre keine Blockade.» Ob das wohl für die ganze Mannschaft stimmt? Die Gazzetta dello Sport schreibt. «Wir spielen gegen unsere eigenen Geister an, es ist alles Kopfsache.»
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