Xherdan ShaqiriLausbub, Knipser, Riesentalent – doch das Bild beginnt zu bröckeln
Nach 120 Länderspielen ist er unverändert überzeugt, dass er noch immer gut genug ist für die Schweiz – es liegt nur an ihm, alle davon zu überzeugen. Vielleicht gelingt ihm das schon heute in Irland.
Er war einmal ein Lausbube, ein Spieler fürs Spektakel und den Unterschied, ein Publikumsliebling, nach dem sich die Jugend schon fast verzehrte. Er war ein Star.
Xherdan Shaqiri war aus der Nationalmannschaft nicht wegzudenken, er musste nur fit sein. Das war er nicht immer. Aber wenn er es war, war er der Mann für besondere Momente. Als er einmal gegen England ein fantastisches Tor erzielte, das war wenige Tage vor seinem 19. Geburtstag, stufte er das Ereignis gleich selbst ein: Der Gegner sei schliesslich nicht der «FC Haudänäbä» gewesen.
Inzwischen fehlt ihm nur noch ein halbes Jahr, bis er auch schon 33 ist. Nationalspieler ist er weiterhin, mit 120 Einsätzen die Nummer 2 hinter Granit Xhaka. Mit seinen 29 Toren ist er zudem klar abschlussstärkster Spieler des aktuellen Aufgebots. Und weil 34 Assists dazukommen, ist er als Lieferant von Skorerpunkten absolut unerreicht. Das verleiht ihm unverändert eine gewisse Aura und Bedeutung.
Und doch ist in diesen grauen Tagen im nördlichen Europa etwas anders als zu seinen besten Zeiten. Er ist nicht mehr der unbestrittene Spieler, der sich quasi selbst aufstellt. «Ob ein Spieler von der Bank kommt oder nicht, jeder muss seine Rolle kennen», ist der Leitsatz von Nationaltrainer Murat Yakin. Immerhin gibt er Shaqiri heute Dienstag in Dublin gegen Irland von Anfang an Auslauf. Das sei so geplant gewesen, sagt er am Tag vor dem Spiel. Weiter gebe es zu dieser Sache nichts zu diskutieren.
Joker? Doch nicht Shaqiri
Am Samstag beim ersten EM-Test in Kopenhagen gegen Dänemark setzte er Shaqiri noch auf die Bank, 75 Minuten lang, eine kleine Ewigkeit für einen Spieler, der so lange erste Wahl war. Der SRF-Reporter fragt ihn darum nach seinem Kurzauftritt im Parken, ob er eine neue Rolle habe. «Nein, nicht dass ich wüsste», antwortet Shaqiri. «Meine Rolle bleibt gleich.»
Die Antwort steht für ungebrochenes Selbstverständnis und für unveränderte Ansprüche, weiterhin einen Platz in dieser Mannschaft zu haben. Shaqiri, der Joker? Nein, das ist nichts für ihn. Für ihn sei wichtig, dass er fit sei und seine Spiele mache. Und mit feiner Klinge führt er die Argumentation in eigener Sache zum entscheidenden Punkt: «Statistiken lügen nie. Man muss sich auch einmal die Statistiken anschauen. Von daher ist es auch wichtig, dass man Spieler aufstellt, die oft spielen und im richtigen Moment Leistung zeigen können.» Und schiebt bedeutungsvoll nach: «Auch an grossen Turnieren.»
Die erste Endrunde hat er 2010 in Südafrika erlebt, wenn auch nur als 18-jähriger Lehrling. Fünf weitere sind seither dazugekommen. 21 Spiele hat er an WM und EM bestritten, auf so viele bringt es einzig der ewige Linksverteidiger Ricardo Rodriguez. Neun Tore zieren sein Palmarès auf dem langen Weg zwischen Brasilien und Katar.
Viele unvergessliche Momente sind damit verbunden. Sein Hattrick im entscheidenden Gruppenspiel der WM 2014 gegen Honduras. Sein Seitfallzieher zum 1:1 gegen Polen, das die Schweiz im EM-Achtelfinal 2016 fast in letzter Minute in die Verlängerung rettete. Sein Siegtor zum 2:1 gegen Serbien an der WM 2018 (inklusive Doppeladler-Jubel und folgender wochenlanger Polemik). Seine beiden Treffer zum kapitalen 3:1 gegen die Türkei an der EM 2021. Oder schliesslich sein Beitrag zum Sieg gegen Serbien an der WM in Katar.
Die allermeisten Tore gelangen ihm in schwierigen Situationen, schwierig für die Mannschaft und besonders für ihn. Immer wieder geriet er in die Kritik, weil er nicht brachte, was aufgrund seines Talents und Status von ihm erwartet wurde, weil er eben damit leben musste, dass von ihm mehr erwartet wird als von einem Spieler des FC Haudänäbä. Gerade in jüngeren Jahren nervte ihn diese Erwartungshaltung, «grausam» sogar, wie er damals in Brasilien sagte. «Es hängt doch nicht alles von mir ab.»
Das Mentale als Trumpf
Granit Xhaka aber erkannte genau in entscheidenden Spielen etwas, was seinen alten Basler Weggefährten besonders auszeichnet. «Das sind seine Momente, wenn er kritisiert und dann gebraucht wird», sagte er Ende 2021, bevor Shaqiri gegen Bulgarien sein 100. Länderspiel feierte. «Das zeigt, wie stark er mental ist.» Aus Anlass jenes Jubiläums bilanzierte Xhaka: «Shaq ist ein besonderer Mensch und besonderer Kicker. Es ist eine Ehre für mich, so lange mit ihm zu spielen.»
Noch etwas früher, 2017, adelte der ehemalige Nationalspieler Stéphane Henchoz den Freigeist im Schweizer Team. «Barcelona hat Messi, Real Ronaldo und die Schweiz eben Shaqiri», sagte er in der «SonntagsZeitung». Das Sonderlob erfreute Shaqiri. Damals stand er bei 20 Toren in 64 Länderspielen. Er schien sogar auf dem Weg, Alex Frei als Rekordtorschütze der nationalen Auswahl übertreffen zu können.
Es wird wohl nichts mehr für ihn, Freis Marke von 42 Treffern zu erreichen. In seinen letzten 56 Spielen ist Shaqiri nur noch neunmal erfolgreich gewesen. Diese Quote ist mager. Oder um ihn an sein eigenes Zitat zu erinnern: Statistiken lügen auch in einem solchen Fall nicht.
Shaqiri war dieser Spieler, der so lange die Fantasie beflügelte wie kein Schweizer sonst. Er war dreimal Meister mit Basel, holte mit Bayern München neun Titel und war dabei, als Liverpool die Champions League gewann und erstmals nach dreissig Jahren die Meisterschaft. Er war das Feierbiest, das es bei Jubelbildern stets schaffte, zuvorderst aufzutauchen.
Sein Palmarès ist eindrucksvoll und verklärt zugleich seine Rolle, die ihm in München und Liverpool zustand. Da war er nicht dauerhaft ein entscheidender Faktor. In den drei Jahren bei Liverpool brachte er es auf acht Tore. In Mailand, bei Inter, fiel er durch. Bei Stoke wurde er zwar immer besser, aber die Mannschaft immer schlechter, bis sie abstieg. Lyon wurde zum halbjährigen Missverständnis.
Talent verliert man nicht
Und seit Anfang 2022 ist Shaqiri in den USA, in der Major League Soccer, die aus Europa betrachtet keinen hohen Stellenwert geniesst. 8,153 Millionen Dollar verdient er Jahr für Jahr, ein X-Faches von jedem anderen Spieler bei Chicago Fire. Das schöne Geld hob ihn bisher nicht auf Leistungen, um die Mannschaft wenigstens ins Playoff zu führen. Im neuen Jahr ist er noch nicht aussergewöhnlich aufgefallen. Dafür fehlt es ihm an Fitness.
Ende Jahr läuft sein Vertrag in Chicago aus. Er müsste also alles Interesse haben, sich gut zu präsentieren, speziell in der Nationalmannschaft, speziell im Sommer an der EM. Und was seine Kollegen am Samstag in Kopenhagen in der Offensive boten, braucht ihn beim besten Willen nicht zu fürchten. Es liegt nur an ihm, um mit Blick auf die EM noch einmal alles aus sich herauszukitzeln. Dass ihm das gelingt, ist ihm zuzutrauen. Talent verliert auch ein Shaqiri nicht.
«Einen wie mich gab es noch nie», hat er der «Schweizer Illustrierten» vor sechs Jahren gesagt. Vielleicht erinnert er sich jetzt daran, um allen zu zeigen, dass er richtiggelegen hat.
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