Verfahrenes EuropadossierWorauf es im Streit mit der EU jetzt ankommt
Nach dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen herrschte Eiszeit im Verhältnis der Schweiz zur EU. Nun versuchen Schweizer Delegationen in Brüssel den Neustart. Kann das gelingen?
Am Freitag trifft Staatssekretärin Livia Leu erstmals seit dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen Spitzenbeamte der EU. Vergangene Woche hat bereits die Efta/EU-Delegation des Parlaments in Brüssel die Stimmungslage sondiert. Man sei gekommen, um die «Abwärtsspirale» zu stoppen, sagte Delegationsleiter und Nationalrat Eric Nussbaumer. Das erste Echo stimmt allerdings wenig zuversichtlich: Die Verärgerung über den einseitigen Abbruch ist nachhaltig. Die Schweiz droht in Brüssel von der Agenda zu verschwinden. Das Interesse am politischen Dialog mit Ignazio Cassis ist in Brüssel jedenfalls gering. Die derzeitige Lage in vier Punkten erklärt:
Die Erosion hat eingesetzt
Die EU-Kommission überprüft derzeit in einem internen «Review», wo ein Update der bilateralen Abkommen künftig für Brüssel noch von Eigeninteresse ist und wo nicht. So ist derzeit offen, ob die EU die Schweizer Reform des Datenschutzes als gleichwertig anerkennt. Verweigert Brüssel die Äquivalenz, wäre der wirtschaftliche Schaden anders als damals bei der Börse gross. Blockiert hat die EU bereits ein Update beim Abkommen über technische Handelshemmnisse für die Branche der Medizinaltechnik. Schweizer Firmen sehen sich mit höheren Kosten beim Export in den EU-Binnenmarkt konfrontiert. Gefährdet ist auch eine Aktualisierung für die Maschinenindustrie, die 2023 fällig wäre. Blockiert ist die Assoziierung der Schweiz beim Forschungsabkommen Horizon Europe, von der EU an die Auszahlung der zweiten Kohäsionsmilliarde gekoppelt. Der Bannstrahl trifft ebenfalls die Strombranche: Die EU-Kommission hat den Verband der europäischen Netzwerkbetreiber aufgefordert, Swissgrid von einer wichtigen Handelsplattform auszuschliessen, wo die Schweizer aus historischen Gründen und in der Hoffnung auf ein Stromabkommen bisher toleriert wurden. Der Review der bilateralen Beziehung dürfte sich bis Dezember verzögern, auch weil die Schweiz auf der Prioritätenliste der EU-Kommission weit nach hinten gerutscht ist. Die angedrohte Erosion hat längst begonnen.
Ein neuer Gesprächspartner für die Schweiz?
Bundesrat Ignazio Cassis möchte mit der EU einen «politischen Dialog» starten. Für den Austausch über die bilateralen Beziehungen fehlt ihm aber derzeit noch der Ansprechpartner. Zuletzt hat Maroš Šefčovič die Kommission im EU-Parlament oder im Ministerrat vertreten, wenn es um die Schweiz ging. Der Slowake ist einer der Stellvertreter der Kommissionspräsidentin und beauftragt, aufzupassen, dass die Briten den Brexit-Deal korrekt umsetzen. Cassis hätte den freundlichen Slowaken gern als Kontaktmann in Brüssel, auch wenn die Verquickung mit dem Brexit der Schweiz bisher kein Glück gebracht hat. Dem Vernehmen nach ist der Entscheid aber noch nicht gefallen. Man wolle den Besuch von Staatssekretärin Livia Leu abwarten und ausloten, ob die Schweiz weiter auf Zeit spiele oder mit konkreten Vorschlägen komme, wie die Ziele des Rahmenabkommens anders erreicht werden könnten, heisst es in EU-Kreisen. Man habe nach acht Jahren Verhandlungen kein Interesse an einem Dialog um des Dialogs willen.
Österreicher als Hoffnungsträger
Aber vielleicht können zwei Österreicher es richten. In Bern setzt man gerade grosse Hoffnungen auf Bundeskanzler Sebastian Kurz und seinen Vertrauten Lukas Mandl, Abgeordneter im EU-Parlament. Beide sind durch ungewohnt Schweiz-freundliche Äusserungen aufgefallen. Sebastian Kurz drängt darauf, dass die Staats- und Regierungschefs sich an einem der nächsten EU-Gipfel persönlich um das Schweiz-Dossier kümmern. Und der Europaabgeordnete Mandl ist dabei, für das EU-Parlament einen Bericht über die gescheiterten Verhandlungen mit der Schweiz zu verfassen. Dabei dürfte durchaus auch Kritik an der Verhandlungsführung der EU-Kommission einsickern. Man dürfte die Gründe für den Abbruch beim Rahmenabkommen nicht ausschliesslich in Bern suchen, sagt Lukas Mandl. Er plädiert für einen Neustart, will die Schweiz und die EU miteinander versöhnen. Mandl muss allerdings auf die Positionen der anderen Fraktionen Rücksicht nehmen, wenn er seinen Bericht redigiert, der zudem nicht mehr als eine Empfehlung sein wird. Und Kurz hatte zuletzt im Kreis der Staats- und Regierungschefs nur noch wenige Verbündete. Die Erwartungen an die zwei Österreicher sind also möglicherweise überhöht. In der ersten Jahreshälfte 2022 übernimmt zudem Frankreich die Ratsgeschäfte in der EU. Also genau in der Phase, in der die Mitgliedsstaaten die sogenannten Ratsschlussfolgerungen zur Schweiz verabschieden werden, eine Art Handlungsanweisung für die EU-Kommission. Frankreich ist aber seit dem Entscheid des Bundesrats gegen den französischen Rafale und für den US-Kampfjet F-35 schlecht auf die Schweiz zu sprechen.
Die Optionen für die Schweiz
Welche Optionen hat die Schweiz? Der Bundesrat dürfte sich darauf konzentrieren, die Erosion in Grenzen zu halten. Gibt das Parlament spätestens im Dezember die Kohäsionsmilliarde frei, stehen die Chancen für eine Rückkehr zum Forschungsprogramm Horizon Europe gut, wenn auch mit grosser Verspätung. Der Bundesrat dürfte zudem einen neuen Vorstoss für ein Strom- oder auch ein Gesundheitsabkommen versuchen. Die Schweiz könnte anbieten, Streitschlichtung, Überwachung und dynamische Rechtsübernahme dort zumindest sektoriell zu regeln. Die EU hat allerdings bisher eine solche Ad-hoc-Lösung als «Rosinenpicken» abgelehnt und auf eine pauschale Regelung gedrängt, die auch die Personenfreizügigkeit umfassen müsste. Ein neuer Anlauf für einen grossen Wurf ist ebenfalls wenig wahrscheinlich. Neue Verhandlungen heisst auch ein neues Mandat. Vor den Eidgenössischen Wahlen 2023 dürfte aber niemand gross Lust darauf haben. Auch auf EU-Seite ist die Bereitschaft auf absehbare Zeit gering, viel politisches Kapital in eine neue Verhandlungsrunde zu investieren.
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