Sinkende ZustimmungKommt jetzt das Ende der Wokeness?
Die Anzeichen aus den USA sind eindeutig: Die Bewegung, die antrat, die Welt besser zu machen, hat den Zenit überschritten. Sogar Linke und Junge zeigen sich zunehmend kritisch.
- Grosse amerikanische Unternehmen überdenken ihr Engagement für Vielfalt, Chancengleichheit und Inklusion (DEI) oder stellen es ganz ein.
- Seit zwei Jahren kühlt in den USA die Begeisterung für «woke» Themen ab.
- Die Bewegung trägt zunehmend totalitäre Züge.
- Es ist nicht zu befürchten, dass erzielte Fortschritte nun rückgängig gemacht würden.
Die Supermarktkette Walmart will nicht mehr. Am Montag hat die grösste Arbeitgeberin der USA mit 1,6 Millionen Angestellten angekündigt, ihr DEI-Engagement «umfassend» zu überdenken. DEI steht für «Diversity, Equity and Inclusion» und soll für Vielfalt, Chancengleichheit und Miteinbezug von allen in den Unternehmen sorgen. Auch bei Schweizer Firmen gehört es seit ein paar Jahren zum guten Ton, dass Mitarbeitende Kurse für einen achtsamen Umgang besuchen und dort ihr Bewusstsein für Diskriminierungen aller Art schärfen.
Schon vor Walmart hatten Boeing, Ford, Toyota, John Deere, Harley-Davidson, Caterpillar und Jack Daniels erklärt, ihre DEI-Bemühungen zu reduzieren oder einzustellen. Die Kursänderung des Supermarktgiganten in Sachen Corporate Wokeness bestätigte nun aber, was sich spätestens mit der Wahl von Donald Trump abgezeichnet hatte: dass die Bewegung, die angetreten ist, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, an Zustimmung verliert.
«Amerika hat Peak Woke hinter sich», schrieb der «Economist» kürzlich und unterlegte den Befund mit Zahlen. In der öffentlichen Meinung mache sich die Trendumkehr gleichermassen bemerkbar wie in den Medien, an den Hochschulen und in der Wirtschaft. Pikant daran: Besonders abgenommen habe die Zustimmung «bei den Jungen und Personen aus dem linken Spektrum», zeigen die Umfragen. Yascha Mounk, Politikwissenschaftler an der Johns Hopkins University, der in seinem Buch «The Identity Trap» die Woke-Entstehungsgeschichte beschreibt, sagte in der «New York Times»: «Die kurze Ära der unangefochtenen Dominanz geht zu Ende.»
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Tatsächlich ist das Thema woke – «wachsam sein» – seit zehn Jahren nahezu allgegenwärtig. Die Bewegung entstand an den amerikanischen Hochschulen, nahm mit der Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump 2015 rasant Fahrt auf und erlebte mit #MeToo sowie «Black Lives Matter» ihre Höhepunkte. Seit zwei Jahren kühlt die Begeisterung indes ab, zumindest in den USA, die bei gesellschaftlichen Entwicklungen meist voraus sind.
Auch in der Schweiz macht sich eine gewisse Müdigkeit bemerkbar
Ein untrügliches Zeichen dafür war, dass Alexandria Ocasio-Cortez, populäre demokratische Abgeordnete aus New York und quasi die politische Verkörperung der Woke-Bewegung, schon vor Monaten still und heimlich den Hinweis «she/her» von ihrem X-Account entfernt hatte. Mit den Pronomen demonstrierte sie ihre Solidarität mit der trans Community. Dieses «virtue signalling» (frei übersetzt: zeigen, dass man zu den Guten gehört) war zu einem Statement geworden, zu dem sich auch Unternehmen verpflichtet fühlten: Die Banken HSBC und Nat West oder der britische Supermarkt-Riese Marks & Spencer zum Beispiel ermunterten ihre Mitarbeitenden, auf den Namensschildern die gewünschten Pronomen zu vermerken.
Sogar in der Schweiz, die nicht gerade zu den gesellschaftlichen Trendsettern gehört, lassen sich erste Anzeichen einer Ermüdung feststellen. Zwar halten Firmen wie Swiss, Coop, Migros oder Helvetia weiterhin an ihren DEI-Programmen fest, wie sie auf Anfrage mitteilen. Und auch die Initiative für ein Genderstern-Verbot wurde letzte Woche in der Stadt Zürich abgelehnt. Ebenfalls letzte Woche zeigte jedoch eine Umfrage von GFS Bern, dass zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung finden, es werde zu oft über LGBT-Themen berichtet, und eine knappe Mehrheit geschlechtsneutrale Toiletten und Umkleidekabinen ablehnt – beides klassische Woke-Themen.
Die Woke-Bewegung wurde immer schriller, gnadenloser
Aus dem berechtigten Anliegen, die Vielfalt zu fördern und mehr Rücksicht auf Minderheiten zu nehmen, entwickelte sich zunehmend eine Verbotskultur, die mehr Leute vor den Kopf stiess, je schriller und gnadenloser sie sich gebärdete. Wer sich einer noch so kleinen Verfehlung schuldig machte oder auch nur in den Verdacht geriet, wurde öffentlichkeitswirksam abgestraft, ausgeschlossen, boykottiert – oder gecancelt, wie das neuerdings hiess. Denn der woke Tugendkodex ist lang.
Wer eine Person mit fremd klingendem Namen fragt, woher sie stamme, verhält sich rassistisch. Weisse, die Rastas tragen, begehen eine «kulturelle Aneignung», was im Sommer 2022 wegen eines abgesagten Reggaekonzerts in Bern auch in der Schweiz tagelang für Schlagzeilen sorgte. Die Möglichkeiten, sich falsch zu verhalten und damit einer «Mikroaggression» schuldig zu machen, sind quasi unendlich: Wer zum Beispiel keine Brille braucht, sich aber aus rein modischen Gründen ein Gestell mit Fensterglas auf die Nase setzt, läuft Gefahr – kein Witz – als «ableistisch», also behindertenfeindlich bezeichnet zu werden.
Selber maximal empfindlich, greifen die woken Vorkämpfer oft zum Zweihänder: Wer die rasant zunehmenden Transidentitäten bei Teenagern hinterfragt und vor verfrühten Hormonbehandlungen warnt, gilt als transphob. Wer als Frau geschlechtsneutrale Umkleidekabinen ablehnt, wird als Terf (trans ausschliessende Radikalfeministin) beschimpft. Hauptsächlich aber sollen sich Weisse schuldig fühlen und eingestehen, wegen ihres White Privilege automatisch rassistisch zu sein. Wer es wagt, zu widersprechen, muss sich auf etwas gefasst machen.
Ein junger Mann nimmt sich das Leben, weil er gecancelt wurde
Die Welt wird in Opfer und Täter eingeteilt, die angeblichen Opfer haben immer recht. Kleine, militante Gruppen richten über angeblich fehlbare Menschen, ohne dass diese je offiziell angeklagt, geschweige denn angehört worden wären. Und wenn ein Mann in einem Prozess vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen wird, heisst es mitunter, das mache ihn nicht weniger schuldig, denn man habe ihm einfach nichts nachweisen können. Die Gerichtshöfe der Moral kennen keine Prozessordnung.
Ausgerechnet die Bewegung, die alle einbeziehen wollte, die mehr Akzeptanz, Rücksicht und Sensibilität forderte, trägt zunehmend totalitäre Züge. Woke wurde zu einer Religion, bei der Vergebung nicht vorgesehen ist. Die Folgen für die Betroffenen können verheerend sein. Kürzlich wurde in Grossbritannien der Fall von Alexander Rogers publik, einem zwanzig Jahre alten Oxford-Studenten, der sich im Januar das Leben nahm, weil er von einem ganzen Freundeskreis gecancelt worden war. Rogers hatte mit einer Kommilitonin geschlafen, worauf diese erzählte, sich danach «unwohl» gefühlt zu haben.
Ohne je mit ihm darüber gesprochen zu haben, war das für die woke Studentenschaft genug, den jungen Mann auszuschliessen und sozial zu ächten. Nach Rogers’ Suizid wurde eine Untersuchung eingeleitet, die zeigte, dass solche Schnellgerichte nicht nur in Oxford, sondern an britischen Hochschulen generell «verbreitet und üblich» sind. Um ins Visier zu geraten, reicht derzeit manchmal nur schon, Sympathien für Israel zu haben.
Solche Fälle sorgen selbst bei jenen, die Woke eigentlich begrüssen, immer häufiger für Irritation und Unmut. Es war kein Zufall, dass Kamala Harris im Wahlkampf weder ihre Hautfarbe noch ihr Geschlecht gross zum Thema machte. Die Demokraten hatten die Zeichen der Ablehnung für diese Themen gespürt, wenn auch gewaltig unterschätzt.
Die Zustimmung zu Woke war nie so gross wie angegeben
Zumal der Woke-Siegeszug lange als unaufhaltbar galt. Nicht nur weil viele Anliegen berechtigt waren, sondern auch, weil niemand als schlechter Mensch gelten wollte. Denn der Wokeismus verlieh einem jenen Hauch von Progressivität, der gemeinhin als cool gilt – erst recht bei der Gen Z, die gerade Firmen als Zielgruppe erreichen möchten. Mittels kleiner Wörter und Gesten konnte man der Welt mitteilen, fortschrittlich und solidarisch zu sein. Sich der neuen Sensibilität zu verweigern oder sie zu kritisieren, konnte sich kaum jemand leisten.
Aber just deshalb sei die Zustimmung nie so gross gewesen, wie es lange den Anschein gemacht habe, schreibt der «Economist». Viele Menschen hätten sich nicht zu widersprechen getraut und bloss mitgemacht, weil sie die Konsequenzen fürchteten. Die Cancel-Culture wirkte so abschreckend, dass in Umfragen eine zunehmende Zahl von Menschen angab, sich nicht mehr zu trauen, offen ihre Meinung zu sagen. Dass das Pendel am Zurückschwingen ist, zeigte sich letzte Woche auch beim Unterhaltungskonzern Warner Brothers, der ankündigte, demnächst eine neue Harry-Potter-Serie zu drehen. In der Pressemitteilung wurde Autorin JK Rowling für ihr Werk gelobt – und angemerkt, diese habe «das Recht auf ihre eigene Meinung».
Das Thema Trans wird von Fachleuten kritischer angeschaut
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber noch vor einem Jahr wäre dieser Satz undenkbar gewesen. Rowling hatte den Hass der Trans-Bewegung auf sich gezogen, weil sie sich dagegen wehrt, dass trans Frauen – also biologische Männer – als Frauen gelten. Und dass Frauen geschlechtsneutral und reichlich despektierlich als «Menschen, die menstruieren», bezeichnet werden. Tatsächlich dreht der Wind auch beim Thema Trans. Walmart zum Beispiel will fortan keine Brustabbinder für Mädchen mehr anbieten, weil die Geschlechtsdysphorie heute von Fachleuten kritischer hinterfragt wird. Studien zeigen, dass ihr vermutlich eine Reihe anderer psychischer Störungen zugrunde liegen.
Wer jetzt befürchtet, dass wichtige Fortschritte rückgängig gemacht werden oder gar die Stimmung ins Gegenteil kippt, sorgt sich umsonst. Denn es ist nicht so, dass nun Chancengleichheit unerwünscht ist. Die Umfragen zeigen zwar, dass die Zustimmung zu woken Anliegen in der amerikanischen Bevölkerung sinkt. Sie belegen aber gleichzeitig klar, dass die Mehrheit Diskriminierung und Rassismus nach wie vor als grosse Probleme erachtet, die es zu lösen gilt.
Damit ergeht es dem Wokeismus nicht anders als vielen anderen sozialen Bewegungen: Auf die geglückte Revolution folgt die Radikalisierung, und nach einer erzwungenen Mässigung obsiegt am Ende der gesunde Menschenverstand, ohne den keine Gesellschaft auskommt.
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