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Chancengleichheit in der Arbeitswelt
«Diversity-Management verkommt oftmals zur Absurdität»

Die Belegschaft von Firmen soll vielfältiger und durchmischter werden: Job-Bewerberinnen und -Bewerber vor dem Vorstellungsgespräch.
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Johanna L. Degen, Sozialpsychologin an der Europa-Universität im deutschen Flensburg, konnte das Ergebnis ihrer eigenen Studie nicht glauben. Wie war das möglich?

Degen und ihr Team hatten 40 Firmenchefs und Personalverantwortliche zum Thema Diversity-Management in Unternehmen interviewt – doch nicht eine einzige der befragten Personen, Frauen und Männer, erwähnte ein erfolgreiches Beispiel von Diversitätsförderung. Dabei ist die Unterstützung von Frauen-Karrieren und das Erreichen einer ethnischen, religiösen und sozialen Vielfalt in der Belegschaft der grosse Trend in der Wirtschaftswelt. Und Diversity ist ein wohlklingendes Label, mit dem sich Firmen noch so gerne schmücken.

«Ich dachte, wir hätten bei der Auswertung einen Fehler gemacht», sagt die Studienautorin Degen. Doch dem war nicht so: Das durchweg negative Feedback auf die Umsetzung von Diversitätskonzepten in Unternehmen entsprach der Realität.

Das Fazit von Degens Untersuchung, kürzlich in Buchform veröffentlicht, ist denn auch vernichtend: «Diversity-Management schafft nicht mehr Chancengleichheit in der Arbeitswelt», sagt die Sozialpsychologin. Zwar seien die Ziele des Konzeptes zweifellos erstrebenswert, in der Praxis aber sei Diversity-Management «oftmals zur Absurdität verkommen».

«Das Label Diversity ist beschädigt»: Johanna L. Degen, Sozialpsychologin und Studienautorin.

Die interviewten Führungskräfte und Angestellten von deutschen Unternehmen – börsenkotierte, aber auch mittelständische und kleine Firmen – nennen immer wieder dieselben Gründe, weshalb Diversity-Anstrengungen scheitern.

  • Die Diversity-Verantwortlichen, die mehr Vielfalt und Gerechtigkeit durchsetzen sollen, stossen in ihren Betrieben auf Ablehnung. Zum einen in den Chefetagen, weil sich Führungskräfte zu Unrecht kritisiert fühlten. Ein typisches Chef-Statement: «Ich würde gerne divers einstellen, aber wir finden keine geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten.» Zum anderen sehen sich die Angestellten durchs Diversity-Management nicht wirklich vertreten: «Die können mir eh nicht helfen, die können einen Manager nicht zwingen, mich in sein Team aufzunehmen», so eine oft geäusserte Meinung.

  • Diversity-Massnahmen werden kaum einer Leistungsprüfung unterzogen, «sie legitimieren sich über den Anspruch der Benachteiligten, sie sind zum Selbstzweck geworden», sagt Degen. Kritik wird in der Regel nicht gewagt – weil niemand als Gegner von Chancengleichheit und Vielfalt diffamiert werden will. «Keiner in der Firma redet darüber, aber alle wissen, das funktioniert nicht», so die Klage einer befragten Führungskraft.

  • Schliesslich führt Diversity-Management zu Konflikten zwischen den Belegschaftsguppen. Die Chefs sehen sich in ihren Entscheidungen bei Rekrutierungen behindert. Die Diversitätsbeauftragten wiederum werfen der Führung vor, sie stelle die falschen Leute ein. Und schliesslich beklagen sich Diversity-Verantwortliche oft über ausgerechnet diejenige Gruppe, für die sie einstehen sollten. «Ich will ja Frauen fördern, aber die wollen nicht», lamentierte einer der Befragten.

Diversity-Management schafft also vor allem diverse Probleme – diesen Befund unterstützt auch ein soeben erschienenes Buch der Wirtschaftswissenschaftlerin Bettina Al-Sadik-Lowinski. Für «Alpha-Mann und Alpha-Frau» führte sie 28 Tiefeninterviews mit 28 männlichen Führungskräften aus 11 Nationen. Alle befragten Männer gaben sich als Befürworter von mehr Frauen in Führungspositionen zu erkennen, in der Praxis aber würden viele von ihnen die Erfahrung machen, «dass es Frauen an Karriereorientierung mangelt», sagte Buchautorin Al-Sadik-Lowinski gegenüber der «Handelszeitung».

Auch deshalb ist es für Männer der einfachere Weg, Männer zu befördern, als Frauen in ihrer Karriere zu unterstützen. Chefs befürchten, dass der Misserfolg auf sie zurückfällt, falls eine geförderte Frau scheitern sollte. Al-Sadik-Lowinskis Fazit zum Thema Diversity: Mehr gemischte Führungsteams entstünden nur dann, wenn sich beide Seiten bewegten, «die Frauen müssen an ihrer Karriereorientierung arbeiten, die Männer mehr Türen öffnen».

«Die Männer müssen mehr Türen öffnen»: Wirtschaftswissenschaftlerin Bettina Al-Sadik-Lowinski.

Unbestritten ist heutzutage das Ziel von Diversity-Management: Nicht mehr länger nur weisse Männer sollen Karriere machen, sondern auch Frauen, Migranten und Migrantinnen, alleinerziehende Eltern, Schwule und Lesben. Kurzum: Ebenso wie die Gesellschaft wird damit auch das Personal von Firmen und Konzernen durchmischter, vielfältiger, eben divers. «Natürlich wäre es wünschenswert, wenn in den Unternehmen strukturelle Benachteiligung abgebaut würde», unterstreicht Sozialpsychologin Degen, «aber das wird sich nicht durch das Diversity-Management ändern, wie es derzeit in Firmen und Institutionen implementiert ist.»

Rund läuft hingegen das Beratungsgeschäft in Sachen Diversity, das Business boomt: 2020 gaben Unternehmen weltweit für Diversitäts- und Inklusionscoachings 7,5 Milliarden Dollar aus, bis 2026 wird sich dieser Betrag gemäss der Branchenwebsite Researchandmarkes.com auf 15 Milliarden verdoppelt haben. Dabei betont die Diversity-Lobby, Vielfalt und Chancengleichheit in der Arbeitswelt seien nicht nur ein ethisch-moralischer Imperativ, sondern führten auch zu handfesten wirtschaftlichen Vorteilen. Multiethnische Teams seien innovativer und fällten die klügeren Entscheidungen als eine homogene Belegschaft, heisst es weiter.

Und Diversity erhöhe die Attraktivität eines Unternehmens auf dem Arbeitsmarkt – ja, steigere sogar die Profitabilität. Vor allem Letzteres aber ist eine umstrittene Behauptung: Es gibt sowohl Studien, die die These von der profitablen Vielfalt belegen, als auch andere, die sie widerlegen wollen.

«Es geht vor allem darum, das Image eines Unternehmens aufzuwerten.»

Johanna L. Degen, Sozialpsychologin

Indes, was tun Diversity-Managerinnen und -Manager eigentlich? Sie veranstalten etwa Seminare über «Rassismus und Sexismus am Arbeitsplatz», wie Degens Studie zeigt. Sie achten darauf, dass Stelleninserate inklusive und in gendergerechter Sprache abgefasst sind. Und sie reisen an Tagungen und Kongresse, um sich über die neuesten Diversitätstrends zu informieren. Aber das reicht eben nicht. «Damit lösen sie keine Diskriminierung auf», sagt Degen, «es wird stattdessen eine Fassade gemalt, es geht vor allem darum, das Image eines Unternehmens aufzuwerten.»

Einen ähnlichen Schluss zog unlängst Businessinsider.com, «Diversity Washing ist das neue Green Washing», schrieb die Wirtschaftsplattform. Teure, aber zumeist folgenlose Diversity-Programme dienten als PR-Botschaft gegenüber Investoren, Medien und woken Kundinnen und Kunden.

Notwendige Funktion – beschädigtes Label

Ein plastisches Beispiel für die Diskrepanz zwischen öffentlichen Diversität-Bekenntnissen und tatsächlicher Geschäftspraxis ist Amazon: Der Versandkonzern wirbt einerseits mit seinen Diversity-Programmen, andererseits bekämpft er die Gewerkschaften, die sich für bessere Arbeitsbedingungen insbesondere von Schwarzen einsetzen.

«Einen Kulturwandel vollziehen»: Gudrun Sander, Titularprofessorin an der Universität St. Gallen.

Wohlwollender beurteilt Gudrun Sander, Titularprofessorin an der Universität St. Gallen, die Lage an der Diversitätsfront. «Viele Unternehmen meinen es tatsächlich ernst und wollen eine vielfältigere Belegschaft», sagt die renommierte Fachfrau für Diversity-Management. Eine erfolgreiche Umsetzung der hehren Absichten in die Businessrealität scheitere indessen oft daran, dass den Diversitätsverantwortlichen nicht genügend Ressourcen und Einfluss zugestanden werde. Ein einzelner Diversity-Manager, eine einzelne Diversity-Managerin stehe in einem Unternehmen von vornherein auf verlorenem Posten. «Diversity-Management bedeutet, einen Kulturwandel zu vollziehen – um solch einen Prozess umzusetzen, braucht es ganze Teams mit entsprechenden Entscheidungsbefugnissen», sagt Sander.

«Mehr Fantasie und Engagement bei der Rekrutierung»: Diversity-Expertin und Headhunterin Marion Fengler-Veith.

Tatsächlich bleibe Diversität bloss ein Lippenbekenntnis, wenn nicht Geschäftsleitung und Verwaltungsrat «das Thema pushen und vorleben», wie Marion Fengler-Veith, Schweiz-Chefin und Diversity-Expertin beim internationalen Kadervermittler Heidrick & Struggles, sagt. Zu Diversity gehöre zudem eine Führungskultur, in der das Individuum geschätzt und individuelle Meinungen gefördert würden. Nicht gelten lassen will die Headhunterin die Klage, der Arbeitsmarkt selbst sei zu wenig vielfältig, um diverse Teams aufzubauen. «Dann muss man eben bei der Rekrutierung mehr Fantasie und Engagement zeigen.»

Diversity-Management muss nicht grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sein, davon ist auch Studienautorin Johanna L. Degen überzeugt. «Das Label ist zwar beschädigt, aber die Funktion ist sehr wohl notwendig.» Um am Arbeitsplatz mehr Vielfalt und Gerechtigkeit zu schaffen, brauche es allerdings mehr, «als Stelleninserate mit Gendersternchen zu verfassen».

Johanna L. Degen: Unmasking Diversity Management. Die kapitalistische Einverleibung von Subjekt, Moral und Widerstand. Psychosozial-Verlag, Giessen 2022. 264 S., ca. 34 Fr.

Bettina Al-Sadik-Lowinski: Alpha-Mann und Alpha-Frau. Internationale Topmanager über Strategien zu mehr Gender Diversität und gemischten Führungsspitzen. De Gruyter, Berlin 2023. 173 S., ca. 38 Franken.