Bauprojekt in Zürich«Klatsche ins Gesicht»: Schlagabtausch um grosses Genossenschaftsprojekt im Kreis 4
Zwei Genossenschaften planen seit den Nullerjahren den Neubau zweier Siedlungen. Der Gemeinderat hat dem Vorhaben zugestimmt, doch es droht gleich doppelter Widerstand.

- Der Zürcher Gemeinderat bewilligt mit grosser Mehrheit den Gestaltungsplan Seebahnhöfe.
- Die Baugenossenschaften planen statt 260 neu 350 Wohnungen für tausend Menschen.
- Linksgrüne Kritiker bemängeln die Vernichtung historischer Bausubstanz aus den Dreissigerjahren.
- Der Heimatschutz erwägt rechtliche Schritte gegen das Projekt.
Als die ersten Ideen für dieses grosse Bauprojekt reiften, existierten der Prime Tower und die Europaallee erst auf dem Papier.
Die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (ABZ) und die Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP) entschieden in den Nullerjahren, ihre Siedlungen Kanzlei und Seebahn im Bullingerquartier im Kreis 4 gemeinsam zu ersetzen.
Nun, fast 20 Jahre später, hat der Gemeinderat am Mittwochabend einen wegweisenden Entscheid gefällt: Mit 100 zu 11 Stimmen stimmte das Stadtparlament dem privaten Gestaltungsplan Seebahnhöfe zu. Ob schnell gebaut werden kann, bleibt aber fraglich.
Das Projekt in Kürze: BEP und ABZ wollen auf dem Geviert zwischen Seebahnstrasse, Kanzleistrasse, Erismannstrasse und Karl-Bürkli-Strasse verdichten. Künftig sollen dort 350 statt 260 Wohnungen gebaut werden, die Platz für rund 1000 statt 500 Bewohnerinnen und Bewohner bietet.
Vor dem Entscheid debattierte der Gemeinderat fast eine Stunde lang über die Neubauten.
«Der Nutzen dieses Projekts ist enorm», sagte SP-Hochbauvorsteher André Odermatt im Rat. Es schaffe mehr gemeinnützigen Wohnraum, ein vielfältiges Wohnungsangebot, Gemeinschaftsräume und subventionierte Wohnungen für die einkommensschwächsten Haushalte.
Grüne sind gespalten
«Die heutigen Siedlungen haben Defizite im Bereich Lärmschutz, aber auch Behindertengerechtigkeit», strich Roger Suter von der FDP heraus. Und Brigitte Fürer (Grüne) sagte: «Ich habe wenige Gestaltungspläne gesehen, die dieses Qualitätsniveau haben.» Aber: Innerhalb ihrer Fraktion sei das Projekt umstritten.

Es ging um die Diskussion: Abriss versus Neubau, um Vernichtung von grauer Energie versus mehr bezahlbaren Wohnbau. Eine Mehrheit der Grünen stehe hinter dem Projekt, die Genossenschaften hätten überzeugend darlegen können, dass ein Ersatzneubau zielführender sei. «Es wäre ungerecht, dieses Projekt auf Feld 1 zurückzuschicken», sagte sie. Sie hoffe aber, dass in Zukunft verstärkt versucht werde, im Bestand zu verdichten.
Ähnlich tönte es von SP, GLP und SVP. Seine Fraktion sei überzeugt vom Gestaltungsplan, sagte Marco Denoth (SP). Ergänzte aber: «Es geht um ein sehr altes Projekt, würde es heute starten, würden wir es anders beurteilen.»
AL stellt sich gegen die neuen Wohnungen
Tatsächlich haben die Seebahnhöfe einen langen Weg hinter sich. Nach dem Erneuerungsentscheid vor fast 20 Jahren erarbeiteten die Genossenschaften gemeinsam mit dem Quartier ein Leitbild für die Erneuerung und führten Architekturwettbewerbe durch. 2016 entliess die Stadt die Siedlungen aus dem kommunalen Inventar der schützenswerten Bauten – ein Entscheid, gegen den der Zürcher Heimatschutz erfolglos juristisch vorging. Ab 2019 erarbeiten die Genossenschaften den privaten Gestaltungsplan.
Dieser lange Prozess habe dazu geführt, dass das Projekt «aus der Zeit gefallen» sei, sagte Patrick Maillard von der AL, die sich gegen den Gestaltungsplan stellte. Es sei nicht ökologisch, die Bausubstanzvernichtung widerspreche dem Nachhaltigkeitsgedanken. «Ich behaupte, mit einer Sanierung und Aufstockung oder einem Teilersatz könnte die Lebensdauer massiv erhöht werden.»

Unterstützt wurde die AL von einem Teil der Grünen-Fraktion. Anstelle erprobter, historischer Siedlungen sollen «Musterbauten der Lärmarchitektur» treten, sagte Martin Busekros. Und das in einem Geviert, das kein Verdichtungsgebiet sei.
Unverständnis für linksgrüne Kritik
Die Gegenwehr der jungen Grünen und der AL stiess auf wenig Verständnis. GLP-Gemeinderat Nicolas Cavalli machte sie ziemlich fassungslos. Am 5. April hätten viele in Zürich für mehr bezahlbare Wohnungen demonstriert, am 9. April lehne die AL und «extrovertierte Exponenten» der Grünen dieses Projekt ab, sagte er. «Das ist eine Klatsche ins Gesicht der Genossenschaften.»
Auch SP-Redner Marco Denoth teilte aus. Er habe immer gedacht, dass die SP gemeinsam mit der AL und den jungen Grünen für mehr bezahlbaren Wohnraum kämpfe. Doch nun würden sie mit «absurden ökologischen Argumenten» gegen das Projekt stemmen. «Ihr seid euch eurer Verantwortung nicht bewusst.» Und Roger Suter (FDP) wollte wissen: «Warum seid ihr gegen Wohnungen?»
IG prüft ein Referendum
Mit dem Ja des Gemeinderats zum Gestaltungsplan dürfte die bereits lange Geschichte der Seebahnhöfe aber kaum ein rasches Ende nehmen. Es kündigt sich bereits doppelter Widerstand an: aus dem Quartier und vom Heimatschutz.
Einige Bewohnende der Siedlungen und Sympathisanten haben die «IG Seebahnhöfe retten» gegründet. Diese «bedauert, dass dermassen bedeutende Baudenkmäler leichtfertig preisgegeben werden, statt andere Lösungen ernsthaft zu prüfen», teilt sie mit. Deshalb erwägt die IG, das Referendum zu ergreifen.
Wehrt sich auch der Heimatschutz nochmals?
Weiter droht auch juristischer Widerstand.
Der Heimatschutz möchte die Siedlungen erhalten. Dass der erste Versuch, den Abbruch zu verhindern, 2018 gescheitert ist, war «ein herber Schlag», sagt Evelyne Noth, Präsidentin des Stadtzürcher Heimatschutzes. Die Siedlungen abzureissen, «ist ungeheuerlich», findet sie, denn die Gebäude aus der Zwischenkriegszeit seien einzigartig und von europaweiter Bedeutung. Sie würden zu den schweizweit grössten und besterhaltenen Ensembles von Wohnhöfen, die während dieser Zeit in Europa gebaut wurden, und sind Teil des schützenswerten Siedlungsensembles Sihlfeld/Seebahneinschnitt. «Die Stadt ist auf bestem Weg, ihre eigene Geschichte aus der Zeit des Roten Zürichs auszuradieren.»

Der Heimatschutz zieht in Betracht, sich nochmals gegen das Projekt zu wehren, da eine Verdichtung im Bestand möglich sei. Seit 2018 habe sich die rechtliche Ausgangslage verändert, wenn es um den Abriss von Objekten aus dem Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder (ISOS) mit Substanzerhaltungsziel wie den Seebahnhöfen gehe, sagt Noth. Der Stadtrat hätte deshalb ein Gutachten bei der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege (EKD) in Auftrag geben müssen, das klärt, ob die Gebäude in ihrem heutigen Zustand erhalten werden müssen. Noth kritisiert, dass ein solches bis heute fehle.
Ob der Heimatschutz rechtliche Schritte ergreift, ist noch ungewiss: Die Vorstände werden sich noch beraten.
Stadtrat André Odermatt lobte in der Debatte am Mittwochabend den langen Atem der Genossenschaften in seinem Votum. Diesen dürften sie weiterhin unter Beweis stellen müssen, wenn dereinst die neuen Seebahnhöfe gebaut werden sollen.
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