Interview mit Wirtschaftspsychologen«Nostalgie fühlt sich wohlig an»
Hunderte Leserinnen und Leser teilen nostalgische Erinnerungen an längst verschwundene Geschäfte. Wirtschaftspsychologe Christian Fichter erklärt, was die Sehnsucht nach gestern mit der Gegenwart zu tun hat.
Manor übernimmt drei Stockwerke im Zürcher Jelmoli-Haus und kehrt damit an die Bahnhofstrasse zurück. Das verleitete die Redaktion dazu, sich auch andere Geschäfte zurückzuwünschen. Der Artikel mit den nostalgischen Erinnerungen an EPA, ABM, Franz Carl Weber oder Jecklin löste viele Reaktionen aus. Fast 260 Onlinekommentare, in denen Leserinnen und Leser die Liste abhandengekommener Geschäfte um unzählige Adressen ergänzten, gingen bei dieser Redaktion ein. Christian Fichter ist Wirtschaftspsychologe und Leiter Forschung und Entwicklung der Kalaidos-Fachhochschule in Zürich. Er weiss, was es mit der Shopping-Nostalgie auf sich hat und warum im Alltag trotzdem die Bequemlichkeit siegt.
Christian Fichter, welche Läden in Zürichs Innenstadt vermissen Sie?
Inzwischen keine mehr. Ich weiss die Vorteile des Onlineshoppings zu schätzen. Aber klar habe auch ich schöne Erinnerungen an EPA, ABM und viele kleine, inhabergeführte Cafés und Plattenläden.
Warum sind unsere Erinnerungen an längst verschwundene Geschäfte so sentimental?
Die nostalgische Verklärung verschwundener Geschäfte ist mehr als reine Sentimentalität. Sie offenbart tiefe psychologische und gesellschaftliche Sehnsüchte.
Wie ist das zu verstehen?
Alte Läden sind emotionale Anker. Sie verkörpern persönliche Erinnerungen und repräsentieren lokale Identität und Gemeinschaft. Letztlich offenbart dieses Phänomen unsere tiefe Sehnsucht nach Kontinuität und Verbundenheit in einer sich rasant wandelnden Welt.
Dann ist Nostalgie eine Strategie, mit den Belastungen des gesellschaftlichen Wandels umzugehen?
Ja. Nostalgie fühlt sich wohlig an und kann Stress reduzieren, indem sie positive Erinnerungen und ein Gefühl von Beständigkeit auslöst.
Dann sind wir in Krisenzeiten nostalgischer?
Auf jeden Fall. Angesichts von Bedrohungen bietet Nostalgie einen Orientierungspunkt, einen sicheren Hafen. Die Verklärung ist aber oft auch eine subtile Kritik an aktuellen Entwicklungen.
Warum gehen dann aber immer mehr traditionelle Geschäfte ein, weil ihnen die Kundschaft fehlt?
Ironischerweise klafft zwischen der Nostalgie und dem realen Konsumverhalten eine Lücke. Trotz aller Schwärmerei für die gute alte Zeit siegen im Alltag Bequemlichkeit und Preis. Die Nostalgie für alte Läden ist somit auch ein Spiegel unserer zerrissenen Konsumidentität – zwischen Wunsch und Wirklichkeit.
Dann ist Nostalgie in gewisser Weise auch eine Zukunftsutopie?
Absolut. Indem wir die Vergangenheit idealisieren, projizieren wir gleichzeitig Wunschvorstellungen in die Zukunft. Die Sehnsucht nach verlorenen geglaubten Qualitäten wie Gemeinschaft, Handwerkskunst oder Entschleunigung kann als Blaupause für eine erstrebenswerte Zukunft dienen. Nostalgie ist somit ein vielschichtiges Phänomen: rückwärtsgewandt in ihrer Orientierung, aber zukunftsweisend in ihrem Potenzial. Die Herausforderung besteht darin, die positiven Aspekte der Nostalgie zu nutzen, ohne sich in einer idealisierten Vergangenheit zu verlieren.
Was heisst das für den Zürcher Detailhandel?
Erfolgreiche Konzepte verbinden bereits heute Nostalgie mit zeitgemässen Angeboten, etwa durch die Integration von Offline- und Online-Erlebnissen, durch Community-Anlässe im Geschäft oder mit der Wiederbelebung traditioneller Handwerkskunst in modernem Gewand.
Aber auch das funktioniert nur, wenn auch die Konsumenten ihre Rolle im Wandel reflektieren.
Richtig. Wenn sie bestimmte Geschäftsformen oder -qualitäten wertschätzen, müssen sie diese auch aktiv unterstützen – sei es durch bewusstes Einkaufen in lokalen Läden oder die Bereitschaft, für Qualität und Service mehr zu zahlen.
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