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Überdruss an Streaming-Angeboten
Wir glotzen Müll

In Netflix-Müllfilmen prügeln, foltern und killen Frauen in der Hauptrolle: Jennifer Lopez in «The Mother».
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Du kommst nach Hause, hundemüde, du wirfst dich aufs Sofa, schaust bei Netflix rein. Und du hast schon verloren.

Du hast selbst dann verloren, wenn der Film, den der Algorithmus dir vorschlägt, auf Platz eins der beliebtesten Netflix-Filme in der Schweiz steht und die Inhaltsangabe ganz passabel klingt. Zum Beispiel so: «Eine Auftragskillerin taucht aus der Versenkung auf, um ihre Tochter vor rachsüchtigen Verbrechern zu schützen», wie es in der Beschreibung des Action-Streifens «The Mother» heisst. Aber auch eine Jennifer Lopez in der Hauptrolle macht es nicht besser, auch ein Joseph Fiennes als Bösewicht nicht.

Wieder Müll. Auch dieser Film, ein Netflix-Müllfilm.

Zugegeben, es mag sein, dass der Streaming-Gigant der Welt einige tolle Produktionen beschert hat – leider kann ich mich im Moment an keine erinnern. Was mir dafür einfällt: «Sniper: Assassin’s End», Müll! «Muttertag», Müll! «Balle Perdue 1» und «Balle Perdue 2», beides Müll. «My Name Is Vendetta», Müll! Und das sind alles Beispiele nur aus dem aktuellen Netflix-Angebot.

Die Handlung? Müll. Die Dialoge? Müll. Trotzdem macht das Zeugs nie satt.

Diese Netflix-Müllfilme sind mittlerweile zu einer Art Genre geworden. Endlos viel Action, noch mehr Gewalt, Spezialeffekte, Stunts, rasante Schnitte, Hochglanzästhetik in Ultra High Definition. Spektakel, schon von der ersten Minute an. Und immer wieder mal eine Aufnahme aus der Drohnenperspektive, das gehört dazu.

Die Handlung eines Netflix-Müllfilmes? So verständlich wie eine Montageanleitung von Ikea. Die Dialoge? So tiefgründig wie eine Pfütze. Die Figuren? Auswechselbar, generisch, ohne innere Widersprüche – dafür meistens irgendwie traumatisiert. Typischerweise haben diese Netflix-Müllfilm-Figuren in der Vergangenheit viel Schreckliches erleiden müssen. Doch statt zum Psychiater zu gehen, wie es ein normaler Mensch tut, oder Pillen zu schlucken, schiessen diese Müllfilm-Heldinnen und -Helden die halbe Welt über den Haufen. Ja, auch die Frauen prügeln, foltern und killen, und dies immer häufiger in der Hauptrolle.

Du sitzt also auf dem Sofa und bleibst an einem Müllfilm hängen, wieder einen Abend lang. Und du denkst, es ist, als hätte McDonald’s in deinem Wohnzimmer eine Filiale eröffnet und als würdest du einen Hamburger nach dem anderen verschlingen, obwohl du genau weisst, dass dich die Transfette und all die Kalorien bald umbringen. Übrigens, bis vor einigen Monaten war alles noch viel schlimmer, ich war nicht nur Netflix-Kunde, nein, auch Amazon-Prime-Abonnent. Zu McDonald’s kam also noch Burger King.

Junkfood, Junkfilme – es ist dasselbe: Du willst die Finger davon lassen, doch selbstverständlich wirst du rückfällig. Das Zeug macht nie satt. Was am Ende bleibt: ein schlechtes Gefühl.

Manchmal scheint es, als ob gerade die übelsten Müllfilme es ganz nach oben schaffen in der Schweizer Hitparade der beliebten Netflix-Streifen.

Tag für Tag streamt die weltweite Netflix-Gemeinschaft Filme, Serien oder Dokumentarfilme von zusammengerechnet einer halben Milliarde Stunden; Tag für Tag eine halbe Ewigkeit an Lebenszeit. Nun mag man sagen, was soll das Jammern? Erwachsene Menschen bekommen doch ihren Filmkonsum in den Griff.

Das habe ich auch mal gedacht. Wenn ich mir vergegenwärtige, wie viele Müllfilme immer wieder auf die ersten Plätze der meistgestreamten Netflix-Filme in der Schweiz vorstossen, dann bin ich ganz offenbar nicht allein mit meinem Problem. Ganz zu schweigen von den Extrem-Guckerinnen und -Guckern, die sich ganze Serien am Stück anschauen. Ein Verhalten, das sich Komaglotzen nennt und, so warnt die Ärzteschaft, mit Schlafstörungen bezahlt wird, allenfalls auch mit Depressionen. Manchmal scheint es mir, dass gerade die übelsten Müllfilme es ganz nach oben schaffen in der Schweizer Hitparade der beliebten Netflix-Streifen. Was das über unser Land aussagt, das ist eine andere Geschichte.

Sicher ist: Netflix kennt uns nur zu gut. Der Streaming-Riese weiss, an welcher Stelle wir aussteigen oder zurückspulen. Wann wir im Schnellgang von Szene zu Szene hüpfen. Ob wir uns eine Sexszene gleich mehrmals anschauen. Oder welche Filme zu gruselig sind, sodass sie kaum jemand zu Ende schaut.

Bei Netflix-Müllfilmen beschleicht einen stets das Gefühl, man habe dieselbe Szene schon mal gesehen: «Balle perdue 2».

Der Netflix-Algorithmus schlägt uns immer neue Filme und Serien vor, personalisiert und damit treffsicher. Und der Algorithmus greift, wenn Netflix selbst Müllfilme produziert, ins Drehbuch ein, er weiss, was beim Publikum ankommen wird, was gestrichen werden muss. Das erklärt, weshalb die Dialogzeilen klingen, als hätte jemand in einem Mixer für Drehbücher Dialoge aus alten Filmen neu zusammengemixt. Das ist der Grund, weshalb einen bei Netflix-Müllfilmen beständig das Gefühl befällt, man habe dieselbe Szene schon in einem anderen Film gesehen, allerdings besser.

Diese Verfolgungsjagd auf der Gegenfahrbahn – kennen wir doch aus «Bourne Identity»? Diese Pistolenkugel in Zeitlupe, gefilmt von einer sich um das Geschoss drehenden Kamera – das ist doch «Matrix»! Der Begriff Déjà-vu erhält da eine ganz neue Bedeutung.

Du liest keine Bücher mehr. Du gehst am Abend nicht mehr raus zum Joggen. Du versinkst im Streaming-Sog. Und wenn es ganz schlimm kommt, schläfst du gar auf dem Sofa ein, nach dem zweiten Müllfilm. Das Abo künden? Das geht nicht. Das erlaubt meine Familie nicht.