«Black Lives Matter»-Proteste Weg damit
Weltweit werden revisionistische Monumente gefällt. Der Sturz der Symbole ist selbst eine symbolische Geste – und kann einen Dominoeffekt auslösen.
Es klang fast beiläufig, als Superintendent Andy Bennett am vergangenen Sonntag erklärte, warum die Polizei nicht eingriff, als Demonstranten in Bristol die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston vom Sockel holten, zum Hafen rollten und dort versenkten. Inhaltlich war die Erklärung umso bemerkenswerter. Bennett sagte: «Obwohl ich es bedauere, dass Menschen eine unserer Statuen beschädigt haben, verstehe ich, warum es passiert ist – es ist sehr symbolisch.»
Dass sich die britische Polizei inhaltlich zu politischen Forderungen von Demonstranten äussert, ist ungewöhnlich. Dass ein leitender Beamter offen Verständnis für einen Vorgang zeigt, bei dem es sich formell um schwere Sachbeschädigung handelt, ist beispiellos. Offenkundig war auch in Bristol, katalysiert durch die weltweite «Black Lives Matter»-Bewegung, ein kritischer Punkt erreicht.
Denkmal als unzumutbare Feier einer beschämenden Vergangenheit
Es musste einiges zusammenkommen, um den Sturz des Colston-Denkmals als geradezu erforderlich erscheinen zu lassen. Dabei hatte es in der englischen Hafenstadt, die jahrhundertelang besonders vom Sklavenhandel profitierte, immer wieder Initiativen gegeben, die Statue zu entfernen. Viele Bürger sahen das Denkmal als unzumutbare Feier einer beschämenden Vergangenheit an. Einen neuen Schub erhielten diese Bestrebungen zuletzt 2018. Damals kochte die Debatte über institutionellen Rassismus im Vereinigten Königreich während des Windrush-Skandals hoch, als sich herausstellte, dass Briten afro-karibischer Herkunft unrechtmässig inhaftiert und in mindestens 83 Fällen zu Unrecht abgeschoben worden waren.
Dennoch waren der gewaltsame Tod George Floyds in Minneapolis und die daraus resultierenden weltweiten Proteste anscheinend notwendig, als letzter Auslöser für Abriss und Versenkung der 1895 errichteten Statue. Nun hat Bristol in Grossbritannien einen Dominoeffekt ausgelöst: Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan liess eine Bronzestatue des schottischen Kaufmanns und Sklavenhalters Robert Milligan von seinem Sockel am West-India Quay in den Docklands holen. Es müsse «nicht im öffentlichen Raum gefeiert werden», dass ein Grossteil des britischen Wohlstands dem Sklavenhandel zu verdanken sei, begründete Khan die Massnahme.
Der Stadtteil Tower Hamlets will prüfen, «wie wir problematische Epochen unserer Geschichte besser repräsentieren können». In Plymouth kündigte die Stadtverwaltung an, aus Solidarität mit der «Black Lives Matter»-Bewegung werde der nach dem elisabethanischen Sklavenhändler Sir John Hawkins benannte «Hawkins Square» demnächst umbenannt.
Hat «Black Lives Matter» einen Bann gebrochen?
Auch in den Vereinigten Staaten wurden seit Anfang Juni zahlreiche Statuen entfernt: In Louisville, Kentucky, baute man das Denkmal des Konföderierten-Soldaten John Castleman ab, in Indianapolis eine Figurengruppe von Südstaaten-Soldaten. In Birmingham, Alabama, rissen Demonstranten das Standbild des Kapitäns Charles Linn ein, der die Südstaaten im Bürgerkrieg unterstützt hatte. Den Versuch, auch einen Obelisken für konföderierte Soldaten niederzureissen, unterband Bürgermeister Randall Woodfin, indem er versprach, die Stadt werde das Monument selbst entfernen.
Die Stadt Antwerpen baute derweil eine zuvor schon von Demonstranten stark beschädigte Statue König Leopold II. ab. Nach dem Willen der Vereinigung «Reparons L'Histoire», die sich für die Aufarbeitung belgischer Kolonialverbrechen einsetzt, wird es nur das erste eines guten Dutzends solcher Denkmäler sein, die aus dem belgischen Stadtbild verschwinden sollen. Leopold II. sei ein «Henker, der zehn Millionen Kongolesen getötet hat», so ein «Reparons»-Sprecher.
Hat «Black Lives Matter» einen Bann gebrochen? Es scheint so, wie sich jetzt an verschiedenen Orten zeigt, und zwar im gleichen archaischen Akt. Die Schleifung von Standbildern ist ein Augenblick der Entzauberung, des Götzenfalls, in dem sich die Manifestationen bisher verehrter oder gefürchteter Menschen in ein Stück Metall, in einen Steinbrocken zurückverwandeln. Aus jüngerer Vergangenheit ist vor allem der Abriss der Saddam-Hussein-Statue auf dem Firdaus-Platz in Bagdad in Erinnerung.
Irakische Bürger begannen damit am 8. April 2002, mithilfe eines amerikanischen Bergepanzers wurde er vollendet. Als im Dezember 2013 Demonstranten in Kiew eine Lenin-Statue zerstörten, lieferte das ebenso starke Bilder, wie es drei Jahre zuvor der Abbau einer Statue Josef Stalins in dessen georgischer Heimatstadt Gori vermocht hatte.
Denkmalsturz ist nicht gleich Denkmalsturz
Es wäre gleichwohl denkfaul, all diese Vorgänge, nur weil sie sich äusserlich ähneln, ungeachtet ihrer völlig unterschiedlichen historischen und politischen Hintergründe als gleichwertig oder gar als Aspekte der gleichen Entwicklung aufzufassen. So war der Fall Saddams in effigie zwar Ausdruck der Befreiung einer unterdrückten Bevölkerung von einem brutalen Diktator, zugleich aber auch ein symbolträchtiger Beweis des militärischen Sieges der amerikanischen Streitkräfte. Die Zerstörung der Denkmäler kommunistischer Herrschaft in den ehemaligen Sowjetrepubliken – lange nach dem Ende der Sowjetunion – sollte nicht zuletzt der immer bedrohlicheren früheren Hegemonialmacht Russland georgische und ukrainische Autarkie signalisieren. Denkmalsturz ist nicht gleich Denkmalsturz.
Das gilt selbst dann, wenn es um dieselbe historische Figur geht. Ein gutes Beispiel ist das des Unternehmers und Erzimperialisten Cecil Rhodes: Im Jahre 2015 liess die südafrikanische Cape Town University nach 80 Jahren eine Rhodes-Statue von ihrem Campus entfernen. Die vorangegangene «Rhodes must fall»-Kampagne war Teil des fortdauernden Ringens mit dem Erbe des Apartheidsystems und dem, was die Aktivisten als institutionellen Rassismus und weisse Privilegien in der höheren Bildung des Landes ausgemacht hatten.
Unter dem Motto «Rhodes must fall» verfolgt auch an der Universität Oxford eine Kampagne seit einigen Jahren das Ziel, die Cecil-Rhodes-Statue von der Fassade des dortigen Oriel College zu entfernen. Jetzt unterstrichen 26 Labour-Stadträte in Oxford das erneut: «Die öffentlichen Kunstwerke und Denkmäler einer Stadt sollten ihre Werte widerspiegeln», fordert ihr offener Brief an die Universität. Die Statue sei «nicht mit dem stolzen internationalistischen Erbe und dem Engagement unserer Stadt für Antirassismus vereinbar». Tausende von Studenten und anderen Aktivisten protestierten diese Woche auf der Oxford High Street.
Natürlich kann man die Vorgänge in Kapstadt und Oxford nicht unabhängig voneinander betrachten, sie bedingen einander. Doch notwendigerweise nähert man sich dem von Cecil Rhodes repräsentierten Imperialismus in Südafrika und England aus unterschiedlichen Richtungen. In der früheren Kolonie geht es um die Konsolidierung einer nationalen Identität, die durch eine selbstbewusste Abgrenzung von der imperialen Vergangenheit entsteht. In England hingegen ist gerade dieses imperiale Erbe – in einer nostalgisierten Form – für sehr viele noch immer ein wichtiger Quell der Selbstvergewisserung. Der Brexit ist nur die jüngste, wenn wohl auch verheerendste Folge einer Doktrin, die das Empire unter anderem als Commonwealth-Handelsnetzwerk mit London als Zentrum wiederbeleben will – eine in sich zutiefst hierarchische und zumindest implizit auch rassistische Weltsicht.
«Es ist einer dieser seltenen historischen Momente, nach denen die Dinge niemals wieder so werden können, wie sie waren.»
Der Tatsache ins Auge zu blicken, dass daran keine der ehemaligen Kolonien ein grösseres Interesse hat, fällt den Neoimperialisten ebenso schwer, wie einzugestehen, dass der Westen erst am Beginn der wirklichen Aufarbeitung seiner kolonialen Vergangenheit steht. Es sind dieselben, die in Edward Colston, Robert Milligan und Cecil Rhodes nicht brutale Ausbeuter sehen, sondern im Grunde philanthropische Unternehmer, die man im Kontext ihrer Zeit sehen muss.
Ein verklärendes Geschichtsbild, das Ähnlichkeiten mit dem vieler amerikanischer Südstaatenpatrioten aufweist. Sie sehen etwa im seit 2017 geplanten Abbau der Statue des Konföderierten-Generals Robert E. Lee eine Unterwanderung ihrer Identität und haben bereits mehrmals gewalttätig dagegen protestiert. Auf beiden Seiten des Atlantiks geht es übrigens jeweils nicht um zeitgenössische, sondern um revisionistische Monumente: Edward Colston starb 1721, Grossbritannien schaffte die Sklaverei 1834 ab – die Colston-Statue in Bristol wurde 1895 errichtet. Die Lee-Reiterstatue von Charlottesville wiederum wurde 1917 in Auftrag gegeben, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges.
Phase grosser symbolischer Gesten
Ein Hauptargument britischer Kritiker der Denkmalentfernungen lautet, es handele sich um Geschichtsverfälschung, ja Zensur, manche ziehen Vergleiche mit den Bücherverbrennungen der Nazis. Man brauche die Statuen, um sich die eigene Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Dem hält etwa der Komiker Benjamin Partridge sarkastisch entgegen: «Die Leute, die die Entfernung der Colston-Statue kritisieren, haben Recht – das Entfernen von Statuen löscht die Geschichte aus. Deshalb ist auch Hitler völlig in Vergessenheit geraten.»
Tatsächlich befinden wir uns gerade in einer Phase grosser symbolischen Gesten. Denn nichts anderes als manchmal revolutionäre, manchmal eher administrative Gesten sind diese Denkmalstürze bisher. All dies hat das Potenzial, mehr zu sein als ein reines Symbol – allerdings nur, wenn dem öffentlichen Akt auch wirkliche strukturelle Reformen folgen, die Rassismus als Problem ernst nehmen. Die Hoffnung, dass diese endlich vorgenommen werden, äussert der schwarze britische Historiker David Olusoga: «Was auch immer in den nächsten Tagen gesagt wird, dies war kein Angriff auf die Geschichte», schreibt er im Guardian. «Es ist Geschichte. Es ist einer dieser seltenen historischen Momente, nach denen die Dinge niemals wieder so werden können, wie sie waren.»
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