Ski-Professor Gilles RoulinEr fühlte sich wie Odermatt – jetzt kämpft der Jurist auf Ski um Platz 30
Heftiger Abflug an der WM, Arbeit in einer Anwaltskanzlei, schwacher Saisonstart: Der 29-Jährige hat eine intensive Zeit hinter sich. Und in Wengen ein grosses Ziel.
Plötzlich ist der Druck weg, der permanente Stress, und Gilles Roulin muss sich fragen, was er eigentlich anstellen will mit der ganzen Zeit, die ihm zur Verfügung steht – neben den Trainings und den Rennen.
Acht Jahre lang war Roulin nicht nur der schnellste Zürcher Oberländer auf Ski, sondern auch Student. Vor einem Jahr, nach den Rennen in Wengen, hat er seine Masterprüfungen abgelegt. Er bestand. Jetzt ist er Jurist. Und Skifahrer. Nur noch das.
Roulin sitzt im Schweizer Teamhotel in Wengen an einem kleinen Tischchen. Jetzt sei es gemütlicher, sagt er und lächelt. Doch nur Sportler zu sein, Tag und Nacht nur Ski, das ist nichts für den 29-Jährigen. Also sucht er anderswo nach Ablenkung – und findet sie in Büchern. «Game of Thrones», diese Tausenden von Seiten in einer Fantasiewelt, hat er bald durch. In die Abenteuer von Harry Potter oder des Drachenreiters Eragon ist er schon abgetaucht. Es hilft ihm, Abstand zu finden, «am Nachmittag eineinhalb Stunden lesen, ist der perfekte Ausgleich».
Es läuft gerade vieles rund im Leben von Gilles Roulin. Die Mischung scheint jetzt perfekt für die ganz grossen Auftritte auf der Skibühne. Doch die blieben bislang aus. 47, 45, 36, 41 – und zuletzt 21. Das sind seine Resultate in diesem Weltcupwinter. Einzig beim Super-G in Bormio gab es ein paar Punkte für ihn. In der Abfahrt ging er leer aus, vor dieser Rennwoche im Berner Oberland mit drei Speedrennen am Donnerstag, Freitag und Samstag ist er gar aus den Top 30 gefallen. In den Trainings trug er jeweils die Startnummer 50.
Das ist die Realität, mit der sich der Mann derzeit zurechtfinden muss, der vor sechs Jahren mit Rang 4 in der Abfahrt von Gröden ein erstes Mal für Furore sorgte. Es war damals, 2017/18, sein bester Winter auf der grossen Bühne. Diese stürmte er als unangefochtener Gesamtsieger des Europacups im Vorjahr, sieben Rennen hatte er auf der Vorstufe zum Weltcup gewonnen, Roulin: im Flow, so sagt er das.
Nur der Sieg war gut genug
An diesem Tag im Hotel in Wengen spricht er auch oft über Marco Odermatt, diesen Überfahrer, dem alles zuzufliegen scheint, der unverwundbar und kaum besiegbar wirkt. Roulin tut das mit einiger Bewunderung. Und als er über seine Zeit damals im Europacup nachdenkt, sagt er: «Bei mir war das ähnlich – wenngleich auf anderem Niveau. Alles ausser einem Sieg war eine kleine Enttäuschung.»
Mit entsprechend breiter Brust und viel Selbstvertrauen trat er dann auch im Weltcup auf – und reüssierte gleich. In 20 Rennen landete er 16-mal in den Punkten, mit dem Glanzauftritt in Gröden als Höhepunkt. Doch dieser Flow, dieser Fluss, er versiegte bald. «Es lief fast zu einfach damals», sagt Roulin. Der Trainer vom Europacup, mit dem er ein so gutes Vertrauensverhältnis hatte, fehlte ihm zunehmend. Im Weltcup war er nur noch eine Nummer von vielen. «Es kamen einige Sachen zusammen», sagt Roulin.
Ein paar Ausreisser nach oben blieben ihm, im letzten Winter in Bormio und Wengen mit den Rängen 8 etwa. Aber es fehlte Roulin meist an Konstanz. Dass er nun mit dem Wissen ins Berner Oberland gereist ist, dass es ihm hier meist gut läuft, hilft ihm. Die Lauberhornrennen sind ohnehin seine liebsten, es wäre vor der Spektakelwoche in Kitzbühel der optimale Zeitpunkt für eine Rückkehr in die Top 30 der Startliste.
Die jüngsten Resultate nagen zwar an Roulins Selbstvertrauen, doch sie alle seien erklärbar, sagt er. «Bei jedem dieser Rennen habe ich einen Fehler gemacht, ich weiss, woran es lag, das ist das Positive. Das Negative ist, dass mir die Fehler unterlaufen sind.»
Dass das damit zu tun hat, dass er nun eben mehr Zeit hat, nachzudenken, glaubt Roulin nicht, er sagt aber auch: «Tendenziell hatte ich meine besten Rennen immer um einen Prüfungstermin herum, der Stress brachte Ablenkung. Nach den Prüfungen, wenn der Druck abfiel, wurde es dafür jeweils schwierig.»
Auch den heftigen Sturz im Abfahrtstraining der WM in Courchevel hat er mittlerweile verdaut. Ein klassischer Verschneider – und Roulin schoss bei horrendem Tempo geradeaus in die Netze. Es war einer seiner seltenen Abflüge, er ist alles andere als ein Risikofahrer. Seit er im Februar 2017 in den Weltcup kam, war er nie ernsthaft verletzt.
Noch immer spürt er die Schulter
Der Schreck in den Savoyen war entsprechend gross für ihn. In gewissen Momenten im Training sei er deshalb noch etwas verunsichert gewesen. Auch spürt er die Schulter noch. Doch all das will er nicht als Ausrede gelten lassen. Ebenso wenig die Vorbereitung – die skifahrerisch wegen des vielen Schnees in Chile mässig erfolgreich war. Und sonst in ihrer Unkonventionalität ganz gut passt zu dem Mann, der schon immer mehr war als ein Skifahrer. Im letzten Sommer war Roulin auch noch das: Praktikant in einer renommierten Zürcher Anwaltskanzlei.
Im 50-Prozent-Pensum arbeitete er zwei Monate lang, am Morgen trainierte er, am Nachmittag beschäftigte er sich mit Rechtsfällen. «Extrem intensiv» sei das gewesen, aber das Angebot konnte er kaum ausschlagen. Er überlegt sich nun, auch noch die Ausbildung zum Anwalt zu beginnen. Die Grundvoraussetzung wäre ein Jahr Praktikum insgesamt. «Mache ich in diesem Tempo weiter, dauert es noch ein paar Jahre», sagt er und lacht. «Es kommt auch ganz darauf an, was mit dem Skifahren passiert.»
Was Roulin damit meint: «Im Moment ist die Freude da. Schaue ich hier in Wengen aus dem Fenster, sehe diese Kulisse und kann danach auf abgesperrter Piste Ski fahren, ist das dermassen schön. Das ist meine Leidenschaft, mein Traum. Irgendwann werde ich im Büro sitzen und einen Job machen. Aber es ist auch eine Frage der Resultate, wie lange es noch geht.»
Sein grosses Ziel: die Olympischen Spiele 2026 in Mailand und Cortina d’Ampezzo. Zwei Jahre ist es noch bis dahin. Zwei Jahre ist Gilles Roulin nur Skifahrer. Ausser er sucht sich die nächste Herausforderung.
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