Eine spezielle Freundschaft Er lernt dank Odermatt seine Freundin kennen – und jubelt mit ihm im Ziel
Der Schweizer Abfahrer Marco Kohler erlitt einen Totalschaden im Knie und kämpft mit einer Krankheit. Nun fährt er wieder gegen Marco Odermatt – der ihm in allen Lebenslagen hilft.
Mitte März 2020 wird der Schweiz wegen Corona der Stecker gezogen. Doch bei Marco Kohler heisst es schon zwei Monate zuvor: Nichts geht mehr.
Tatort Wengen, Lauberhornrennen, Kohler ist als Vorfahrer im Abfahrtstraining mit vollem Eifer dabei; er will zeigen, dass er zu Höherem berufen ist, als nur die erste Spur in den Schnee zu ziehen. Das Ziel-S hat er noch vor sich, dann passiert es: Rücklage, Ski verschnitten, Bein verdreht, Abflug ins Netz. Den Fangzaun durchbricht er sogar.
Im Knie «knallt» es, die Eruption ist heftig, schon Sekunden nach dem Unfall ist die Schwellung gewaltig. Mit dem Helikopter wird Kohler nach Interlaken geflogen, die Schmerzen sind gross, und nach der Diagnose wird ihm auch noch schlecht: Kreuzband, Innenband, Patellasehne, Aussenmeniskus – alles ist kaputt.
Zunächst ist Kohler am Boden zerstört, es fühlt sich an, als sei die Welt untergegangen. Schnell aber spricht er sich Mut zu. Und macht sich etwas vor. «Ich dachte, es brauche ein paar Monate Reha, danach sei alles wieder gut», sagt der Berner Oberländer. «Ich werde mich wohl nie mehr in einer Sache so sehr irren wie damals.»
Irgendwann ging gar nichts mehr
Vier Jahre sind vergangen, am Dienstag ist Kohler im Abfahrtstraining erstmals wieder die Lauberhornstrecke runtergedonnert, es ist so etwas wie die Versöhnung mit dem Schicksal. 26 ist er mittlerweile, mit Verspätung ist er angekommen, wo ihn viele früher erwartet hatten. 8. wurde er in Gröden, 10. und 13. in Bormio, er glänzte jeweils mit hohen Nummern, teils hatten die Fernsehsender schon zu den Nachmittags-Telenovelas umgeschaltet.
Die Ergebnisse waren umso wertvoller, weil er sie auf zwei konträren Strecken herausfuhr: im Südtirol auf einem Gleiterkurs, im Veltlin auf einer technisch höchst anspruchsvollen Piste. Im Ziel jubelte Marco Odermatt jeweils ausgelassen mit ihm. Doch dazu später mehr.
Genugtuung habe er gespürt nach diesen Resultaten, «es hat sich gelohnt, dass ich den Bettel nicht hingeschmissen habe, auch wenn es zeitweise nicht gut aussah», sagt Kohler. Lange und vor allem kompliziert verlief der Rehabilitationsprozess, sechs Wochen nach der Operation folgte ein zweiter Eingriff, danach wurde Kohler in Magglingen therapiert.
Hoch über Biel aber ging irgendwann gar nichts mehr, das Knie schwoll bei geringster Belastung an, der Speed-Spezialist hatte permanent Beschwerden, schlief deswegen schlecht. Und so stellte er sich am einen oder anderen schlechten Tag Grundsatzfragen: Macht das Ganze Sinn? Ist sein Körper noch für Spitzensport geeignet?
Kohler zog die Reissleine. Er verliess Magglingen, arbeitete erst mal ein paar Wochen lang in der Autogarage des Vaters. Daheim in Meiringen ging es darum, Abstand zu gewinnen, von Comeback-Plänen, von irgendwelchen falschen Hoffnungen.
Er engagierte Roland Fuchs als Konditionstrainer, der einst mit dem SC Bern Meister- und mit Kilian Wenger den Schwingerkönigstitel feierte – und in diesem Zusammenhang spricht Kohler vom Wendepunkt. Fuchs habe neue Trainingsmethoden angewendet, «er war mutig, hat vieles ausprobiert und ist nie erschrocken, auch wenn es Rückschläge gab». So tankte er Vertrauen, das Knie machte Fortschritte.
Nun kann er Odermatt etwas zurückgeben
Zwei Jahre nach dem Unfall war Kohler zurück auf den Rennpisten, letzte Saison gewann er die Abfahrtswertung im Europacup, holte einen Fixplatz für die Bewerbe auf höchster Stufe. Sein langjähriger Coach Franz Heinzer sagt, solche Erfolge seien eine Zeit lang völlig undenkbar gewesen. Kohler habe sich zu einem extrem konsequenten Athleten entwickelt, der alles unternehme, um erfolgreich zu sein.
Der Abfahrtsweltmeister von 1991 erinnert sich, wie sein Schützling einst als ähnlich talentiert galt wie Odermatt, «phasenweise war er mindestens so gut wie er». Bis zu den U-18-Junioren teilten sich die beiden mehr oder weniger die nationalen Titel. In Engelberg besuchten sie vier Jahre lang die Sportschule, Odermatt absolvierte das Gymnasium, Kohler machte das KV. Sie spornten sich an, balgten sich auf dem Tennisplatz, zogen in der rennfreien Zeit auch mal um die Häuser. Kohler sagt: «Wir sind ziemlich beste Freunde geworden.»
Fast nach jeder Saison fliegen sie gemeinsam in die Ferien, sie waren etwa in Indonesien, Mexiko, Costa Rica. Während des letzten Urlaubs lernte Kohler seine Freundin kennen, und es war auch Odermatt, der ihn animierte, einen Schritt auf diese zuzugehen.
Vor allem aber sei der Ausnahmeathlet in seiner schwierigen Phase eine Stütze gewesen, sagt Kohler, «er hat sich immer wieder gemeldet und mich aufgebaut». Nun könne er etwas zurückgeben – indem er Odermatt beim Tüfteln unterstütze. Wie sein Copain steht er bei Stöckli unter Vertrag, im Speedbereich hatte der Gesamtweltcupsieger bis vor kurzem kaum Referenzwerte. «Odi hat aufgrund seines Programms kaum Zeit zum Testen. Er schätzt es, kann ich ihm ein Feedback geben.»
Er kam kaum noch aus dem Bett
Während Odermatt zum Durchmarsch ansetzte, stagnierte Kohler schon vor dem Unfall in Wengen. Ein tückisches Virus, ähnlich dem Pfeifferschen Drüsenfieber, machte ihm lange zu schaffen, vor allem aber leidet der Haslitaler an einer chronischen Rheumakrankheit.
Sein Körper tut sich schwer im Umgang mit Entzündungen und reagiert entsprechend, die Wirbelsäule ist betroffen, Schmerzen hat er aber hin und wieder auch im Beckenbereich, den Fussgelenken, ja gar in den Zehen. Die Krankheit tritt in Schüben auf, «es gab Phasen, da kam ich deswegen kaum aus dem Bett».
Während der Rehabilitation waren die Beschwerden aufgrund des stark entzündeten Knies besonders heftig, Kohler intensivierte die Zusammenarbeit mit einem Rheumatologen, die Dosierung der Medikamente wurde angepasst. Der steife Rücken ist geblieben, die leidige Geschichte aber in den Hintergrund gerückt.
Was mag er sich auch beklagen nach den jüngsten Ergebnissen, mit denen er selbst auf dem Radar österreichischer Experten aufgetaucht ist? Zumal er das Geschehene am Lauberhorn hinter sich gelassen hat. Immer wieder stellte er sich die Frage, ob ihm der jugendliche Übermut zum Verhängnis geworden war, er leichtsinnig gehandelt hatte. «Aber ich kam zum Schluss, dass es einfach ein Fahrfehler war.»
Letzten Winter rutschte Kohler einmal den Wengener Zielhang runter, es war Teil des Verarbeitungsprozesses. Diverse Sitzungen mit der Mentaltrainerin waren notwendig, den Sturz sah er sich über 100-mal an. Mittlerweile habe er keinen Bezug mehr dazu, «ich habe ihn von meiner Festplatte gelöscht, sehe mich in Gedanken ins Ziel fahren».
Kohler sagt: «Es ist, als wäre das alles nie passiert.»
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