Angstseminar gegen TierphobienAls sie die Spinne sah, kollabierte sie neben ihrem Patienten in der Dusche
Luana Fichera fürchtet sich vor Spinnen. So sehr, dass die angehende Pflegefachfrau jüngst bei der Arbeit zusammenbrach. Ein Angstseminar soll ihr und anderen Betroffenen helfen, mit der sogenannten Arachnophobie umzugehen.
Seit sie sich erinnern kann, fürchtet sich Luana Fichera vor Spinnen. So sehr, dass sie sogar schon auf dem Sofa schlief, als sie in ihrem Zimmer eines dieser achtbeinigen Tierchen entdeckt hatte. Erst nachdem ihre Familie das Zimmer minutiös mit der Lupe abgesucht hatte, traute sich die 17-Jährige wieder hinein. Auch bei der Arbeit ist der angehenden Pflegefachfrau ihre Phobie schon zum Verhängnis geworden: Als sie beim Duschen eines Patienten eine Spinne sah, kollabierte sie. Ihre Arbeitskolleginnen mussten sich um sie kümmern.
Die St. Gallerin ist mit ihren Ängsten nicht allein. Mehr als jeder zehnte Mensch leidet im Laufe des Lebens an irgendeiner Phobie, darunter deutlich mehr Frauen als Männer. Besonders häufig ist die Spinnenphobie, im Fachbegriff «Arachnophobie» genannt. Von einer ausgeprägten Form sind immerhin fast 6 Prozent der Frauen betroffen und 1,2 Prozent der Männer.
Wenn die Angst den Alltag prägt
Weil die Panik vor Spinnen Luanas Alltag stark prägt, haben ihre Eltern sie für ein Angstseminar angemeldet. Die Kurzbehandlung nach dem Ansatz der sogenannten Expositionstherapie wurde an der Universität Zürich entwickelt.
An einem Samstagnachmittag Ende Oktober sitzen sieben Frauen und zwei Männer in einem Raum im Walter-Zoo in Gossau SG. Hinter den Fenstern streifen Tiger herum, was die Teilnehmenden jedoch nicht im Geringsten zu beunruhigen scheint. Bereits bei der Vorstellungsrunde wird aber klar, wie stark Betroffene durch ihre Phobie eingeschränkt sind: «Ich bin schon zu spät zur Arbeit gekommen, weil im Treppenhaus eine Spinne sass, an der ich mich nicht vorbeiwagte», erzählt etwa eine junge Frau. Eine Kollegin bedauert, dass sie sich wegen ihrer Angst kaum auf den Balkon getraue. Ein Paar ist gekommen, weil es gern in tropische Länder reist, aber die Spinnenangst die Freude immer wieder trübt. Und ein junger Mann ist kürzlich in eine Parterrewohnung gezogen, wo er die gefürchteten Tierchen häufiger antrifft.
Vermeidung verstärkt Angst
«Angst ist etwas Normales und sogar Lebenswichtiges», stellt Gianandrea Pallich, der das Seminar als Psychotherapeut mitleitet, gleich zu Beginn klar. «Blöd ist nur, wenn sie sich auf etwas so Kleines, Harmloses wie eine Spinne richtet.»
Die Vermeidungsstrategie verstärke die Angst nur noch, erklärt Pallich. Mit der Zeit beginne man, Angst vor der Angst zu haben. Um aus diesem Teufelskreis herauszufinden, müsse man den Zustand aushalten, in der Situation bleiben, genau hinschauen und dabei versuchen, ruhig zu atmen. «Man muss erfahren, dass einen die Angst nicht umbringt. Dann nimmt sie mit der Zeit ab.»
Als Nächstes erfahren die Teilnehmenden Wissenswertes über Spinnen: Es handle sich um äusserst nützliche Tiere, erläutert Biologin Sonja Lötscher. «Sie fressen viele Insekten. Ohne Spinnen wäre die Erde so voll von Insekten, dass wir kaum atmen könnten.» Zudem werde das Gift von Spinnen für Medikamente gebraucht. Die meisten der rund tausend Arten in der Schweiz seien zwar giftig, aber nicht so stark, dass sie für uns Menschen gefährlich sein könnten.
Schon Bilder lösen Schrecken aus
Nach einer kleinen Vorwarnung zeigt die Biologin nun Bilder von Spinnen auf der Leinwand. Die Präsentation beginnt mit einer lustigen Comic-Spinne und geht weiter mit Zitter-, Gartenkreuz- und Hauswinkelspinnen. Die Teilnehmenden schauen interessiert zu, einige wirken bereits beim Anblick der Fotos etwas nervös. Luana, die angehende Pflegefachfrau, starrt vor sich auf den Tisch. Sie zittert, atmet schnell und flüchtet bald darauf an die frische Luft.
Nach einigen Minuten holt der Psychotherapeut sie zurück und setzt sich neben sie. Als nun grosse Fotos von Spinnen zirkulieren, gibt Luana diese schnell weiter. Andere schaffen es mit etwas Überwindung, die Fotos genau anzuschauen, zu berühren und mit den Fingern den Beinen entlangzutasten.
Nach der Pause geht die Annäherung einen Schritt weiter. Auf den Tischen breiten die drei Kursleitenden nun Häute verschiedener Spinnen aus. Sie sehen aus wie richtige Tiere, doch es handelt sich lediglich um totes Material, das bei der Häutung abgestreift wird. Die Teilnehmenden betrachten sie eingehend. Hin und wieder ertönt ein Schreckensschrei, weil sich eine der Häute wegen eines Luftzugs bewegt. Manuel (Name geändert) fasst vorsichtig eines der fragilen Beinchen, hebt das Objekt auf und setzt es sich auf die flache Hand. Kurz darauf beginnt er stark zu zittern und wirft es zurück auf den Tisch. Doch er lässt nicht locker: Nach einigen Versuchen schafft er es, die Spinnenhülse ruhig auf seiner Handfläche zu betrachten.
Spinnen fürchten sich vor Menschen
Luana hält noch einen guten Meter Abstand. Sie blickt kurz hin und gleich wieder weg. Das Grauen ist ihr ins Gesicht geschrieben. Doch sie zwingt sich, Zentimeter um Zentimeter näherzurücken. Der Psychotherapeut bleibt in ihrer Nähe und lässt sie das Tempo bestimmen. Nach etwa einer halben Stunde hält die junge Frau plötzlich ein Spinnenbein in der Hand und betrachtet die Tierhaut von allen Seiten. Sie strahlt.
Nun nähert sich der Kurs seinem Höhepunkt: Die Leitenden bringen Behälter mit lebendigen Spinnen verschiedener Grösse in den Raum. Biologin Sonja Lötscher platziert eine davon in eine grosse Plastikbox und legt ihre Hand daneben. Die Spinne krabbelt in eine Ecke. «Spinnen wollen uns ausweichen, denn Menschen sind eine Gefahr für sie», erklärt die Fachfrau. Niemals würden Spinnen auf Menschen springen oder aus dem Abfluss hervorkriechen, versucht sie verbreitete Vorstellungen zu entkräften. «Spinnen verharren meist lange in der gleichen Position, weil Bewegung Energie kostet.»
«Ich habe jetzt ein anderes Bild von Spinnen: Es sind eigentlich faszinierende Tiere.»
«Aber wieso hat sie so lange Beine?», fragt Monika (Name geändert) mit sichtlicher Abscheu. Dennoch überwindet sie sich, hinzuschauen. Die Kursleiterin zeigt nun, wie man eine Spinne am besten einfängt, ohne sie zu verletzen: Ein durchsichtiges Gefäss darüberhalten und dann vorsichtig ein Stück Karton darunterschieben. Sämtliche Teilnehmenden schaffen dies bis zum Schluss des Nachmittags. Monika ist von sich selber überrascht. «Ich habe richtig gespürt, wie die Angst schwindet», erzählt sie in der Schlussrunde. «Ich habe jetzt ein anderes Bild von Spinnen: Es sind eigentlich faszinierende Tiere.»
Psychotherapeut Pallich ermutigt die Gruppe, sich weiterhin mit dem Thema zu beschäftigen: Man solle bewusst in den Keller gehen oder sich Dokumentarfilme über Spinnen anschauen. Phobien hätten nämlich die «blöde Tendenz», zurückzukommen, wenn man nicht dranbleibe. Nach dem Kurzseminar sollten sich die Teilnehmenden jedoch erst einmal eine Belohnung gönnen.
Luana Fichera ist erschöpft und gleichzeitig glücklich, dass sie in nur vier Stunden so viel erreicht hat. «Ich bin froh, dass mich meine Eltern angemeldet haben.»
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