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Reform im Eiltempo
Wie Draghi Italien auf Trab bringt

Mario Draghi ist Italiens Ministerpräsident, seine Regierung wurde Mitte März vereidigt. Er war vorher Präsident der Europäischen Zentralbank. 
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Die Zeit rennt, und für Mario Draghi ist das ein riesiges Problem. Der Regierungschef will seinem Land den Zugang zu 191,5 Milliarden Euro aus dem europäischen Corona-Wiederaufbaufonds verschaffen. Man hält das angesichts der Lethargie der italienischen Behörden weithin für ein Ding der Unmöglichkeit.

Nun setzte Draghi das Mass seiner Geduld fest: 15 Tage. Droht ein Projekt des Investitionsplans im Sumpf der Bürokratie zu versinken, gibt er dem saumseligen Amt zwei Wochen Zeit, sich zu rühren. Nach deren Ablauf schreitet die Regierung ein und nimmt den Blockierern die Entscheidung weg. Die Draghi-Uhr tickt.

Die neue Regel ist mehr als nur ein Symbol der gerade beschlossenen Bürokratiereform, mit der die römische Regierung jahrzehntealte Wachstumshindernisse beseitigen will. Die 15 Tage sind auch die Chiffre für Draghis Regierungsstil. Als der ehemalige EZB-Chef vor dreieinhalb Monaten ins Amt gerufen wurde, trat Italien mal wieder auf der Stelle.

Die Seuche hatte das Land zum dritten Mal im Griff, die Impfungen kamen kaum voran und der unfertige Wiederaufbauplan erregte Anstoss. «Draghi erzwang einen beachtlichen Gangwechsel», sagte der Mailänder Ökonom Tito Boeri, als die neue Regierung am 24. Mai 100 Tage im Amt war. Sie brachte das Impfprogramm auf Touren und zapfte mit ihrem Investitionsplan in Brüssel die Hilfen aus dem Wiederaufbaufonds an.

48 Reformen nötig für Geldsegen

Die ersten 25 Milliarden Euro werden in zwei Monaten erwartet. Jetzt aber wird es richtig schwierig für den Premier: Er muss im Eiltempo den Umbau Italiens verwirklichen und die Widerstände von Parteien und Lobbys brechen.

Nach dem Blitzstart stürzte sich Draghi in einen Reformmarathon. Um die EU-Milliarden nach und nach abrufen zu können, muss Italien 48 «aktivierende Reformen» umsetzen. Dafür hat es anderthalb Jahre Zeit. Die Eingriffe sollen die chronischen Wirtschaftshemmnisse aushebeln und die Voraussetzung dafür schaffen, dass die Kredite und Zuschüsse aus Brüssel tatsächlich bis 2026 ausgegeben werden und dem Krisenland zu einem soliden Wachstum verhelfen.

«Man spürt hier eine Begeisterung und eine Lust, nicht nur neu zu starten, sondern die produktiven Energien zu entfesseln.»

Mario Draghi, Ministerpräsident Italien

In Rom lieferte der Premier vor einer Woche die ersten beiden Reformen ab. Pünktlich. In Sassuolo in der Emilia Romagna ist die Zeit hingegen vor 36 Jahren stehen geblieben. So lange warten die Weltmarktführer der Fliesenbranche schon auf die geplante Anbindung an die Autobahn. Derweil karren im Jahr 4000 Lastwagen das Feinsteinzeug aus den Hightech-Fabriken über die ampelreiche Provinzstrasse fort. Der Zubringer existiert seit 1985 – auf dem Papier.

Nun tauchte am Dienstag plötzlich Draghi in Sassuolo auf. Der Römer machte vor den Fliesenherstellern keinen Hehl daraus, wie sehr er den Ausflug schätzte. «Man spürt hier eine Begeisterung und eine Lust, nicht nur neu zu starten, sondern die produktiven Energien zu entfesseln», sagt er. Zum ersten Mal mischt der Premier ein wenig Rhetorik in seinen nüchternen Redestil. Draghi will an diesem Tag das Vertrauen in die wirtschaftliche Renaissance beflügeln.

Mario Draghi beim Besuch einer Fabrik in Sassuolo.

Die Fliesenhersteller haben sich in der Pandemie gut geschlagen und gehören jetzt zu den Vorreitern des Aufschwungs. Im ersten Quartal steigerten sie ihr Geschäft um 9 Prozent. Draghi kam nicht mit leeren Händen zu ihnen. Die gerade verabschiedete Bürokratiereform verkürze die Genehmigungsverfahren, reduziere die Ungewissheit und erleichtere den Unternehmern somit die Arbeit, sagt er.

Seine Regierung überwand auch eine weitere Hürde. Sie klärte die brisante Frage, wer die Umsetzung des Aufbauplans koordinieren und überwachen soll: Draghi, natürlich. Er übernimmt mit seinem Einsatzstab die Federführung. Abwechselnd sollen die betroffenen Minister, Kommunen oder Sozialpartner einbezogen werden. Für die Finanzplanung ist das Team seines engen Vertrauten, Finanzminister Daniele Franco, zuständig.

Im Januar war die Regierung von Giuseppe Conte an dieser Frage zerbrochen. Nun fügten sich die Parteien zahm ihrer Abschiebung ins Abseits. Es läuft für Draghi besser als erwartet. Das soll nicht heissen, dass man sich in der All-Parteien-Koalition nicht in den Haaren liegt. Draghi ignoriert die Streitereien. Er lässt alle «ihr Fähnlein» schwenken, wie er einmal bemerkte. Am Ende löst sich der Zoff in Wohlgefallen auf.

Unbeliebt macht Draghi sich mit dem Reformkurs nicht. Im Mai sprang seine Popularität von 58 auf 66 Prozent. Bewährt hat sich Draghis Methode auch in der Befreiung des Staatsapparats von den Emissären der vor ihm regierenden Populisten. Der Premier löste den Chef des Zivilschutzes, den obersten Pandemie-Bekämpfer, den Geheimdienst-Chef und den Leiter der Arbeitsagentur ab. Im Alleingang. Geräuschlos.

Draghi als «Mario mit den Scherenhänden»

Draghi entscheidet und informiert dann die Parteien über seine Beschlüsse. «Mario mit den Scherenhänden» nennen ihn seine Bewunderer, inspiriert von Edward aus der Fantasy-Tragikomödie von Tim Burton.

Auch die Personalien sind Puzzlesteine im grossen Umbau. Vergangene Woche entliess Draghi den Konzernchef der Staatsbahnen, Gianfranco Battisti, der 2018 ernannt worden war. Auf Wunsch der damaligen Regierung vertrieb sich Battisti die Zeit damit, eine Übernahme des Pleitefliegers Alitalia vorzubereiten. Jetzt einigte sich die Regierung mit der EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager darauf, das Überleben der Fluggesellschaft durch eine radikale Abmagerungskur sicherzustellen. Der Tabubruch ebnet den Weg zum Verkauf des Rumpfunternehmens.

Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte der Austausch der italienischen Führungsklasse mit dem Wechsel an der Spitze der Kreditanstalt CDP. Sie trieb seit 2018 im Auftrag Contes die Verstaatlichung Italiens voran. Nun hat Draghi seinen früheren Weggefährten Dario Scannapieco, bisher Chef der Europäischen Investitionsbank, an die Spitze berufen. Die beiden hatten einst im römischen Schatzministerium die grösste Privatisierungskampagne der westlichen Welt organisiert. Jetzt werden sie am Rückzug der Staatsbank aus der Privatwirtschaft arbeiten.

Deutlich mehr Beschäftigte

Draghi bereitet Italien systematisch auf die Zeit nach ihm vor. Der 73-Jährige will die Befürchtung ausräumen, das Land werde dann rasch in den alten Trott zurückfallen. Pessimisten fragen: Warum soll diesmal gelingen, woran die Italiener seit Jahrzehnten scheitern? Optimisten sagen: Die EU-Auflagen zwingen Italien eine kopernikanische Wende auf. Halten sie sich nicht an die Absprachen, versiegt automatisch der Geldregen.

Und noch etwas hilft der Modernisierung des rückwärtsgewandten Landes: die wirtschaftliche Aufbruchsstimmung. Im ersten Quartal schnitt Italien trotz Lockdown mit einem Nullwachstum vergleichsweise gut ab. Die Zahl der Beschäftigten stieg zwischen Januar und April um 120’000.

«Wir stehen am Vorabend eines Wirtschaftsbooms.»

Renato Brunetta, Italiens Minister für öffentliche Verwaltung

Der Vertrauensindex sprang im Mai um elf Punkte auf 115,8 – der höchste Anstieg unter den grossen EU-Ländern. Die Wachstumsprognose der Regierung für 2021 vom April gilt allgemein als überholt. Statt 4,1 Prozent trauen viele Konjunkturforscher dem Land mehr als 5 Prozent zu. «Wir stehen am Vorabend eines Wirtschaftsbooms», sagt Renato Brunetta, Minister für öffentliche Verwaltung.

Wenn Draghis Regierung Erfolg habe, werde nichts mehr sein wie vorher. Der liberale Wirtschaftsprofessor aus Venedig ist sich sicher: «Das ist die Stunde Italiens.» Draghi ist nicht der Typ, der sich vom Überschwang anstecken liesse. Aber auch er gibt sich – auf seine Art – zuversichtlich. Man frage ihn oft, wie er wohl glaube, seine Aufgabe bewältigen zu können. Nun ja, sagt er und zieht sein verschmitztes Lächeln auf. «Schliesslich habe ich es schon ziemlich oft geschafft.»