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Süditalien hofft auf Ministerin
Sie will den reichen Norden und den armen Süden vereinen

«Wir haben eine historische Chance»: Mara Carfagna, Italiens Ministerin für den Süden.
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«Amore!» Die Zukunft Italiens liegt in einem Büro im zweiten Stock der Galleria Alberto Sordi, eines Prachtbaus im Zentrum Roms, auf einer Decke am Boden mit viel Spielzeug drauf. Die Tochter von Mara Carfagna, sieben Monate alt, ist gerade noch sehr fröhlich, sie kichert und strampelt mit den Beinen. Nach einer Viertelstunde kippt die Stimmung, der Liebling weint. Dann steht plötzlich ein Kindermädchen in der Tür und unterbricht den Versuch, die kleine Vittoria am Interview teilhaben zu lassen. «Amore, ciaooo!»

Carfagna, 45, aus Salerno bei Neapel, ist Ministerin für den Süden im Kabinett von Premier Mario Draghi – verantwortlich also für Italiens stupenden und abgehängten Mezzogiorno, zu dem alle Regionen südlich von Rom gezählt werden. Das frische Mutterglück passt gut zur politischen Euphorie in ihrem Büro.

Die rund 200 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds der Europäischen Union befeuern in Italien den Traum von einem Sprung in die Zukunft, von einer Modernisierung und Digitalisierung des Landes, von einem Wirtschaftswunder nach der Pandemie. Vor allem soll das viele Geld helfen, das grosse Gefälle zwischen Nord und Süd zu überbrücken. Endlich und, wenn möglich, für immer.

«Das ist der letzte Zug. Den dürfen wir nicht verpassen.»

Mara Carfagna, Ministerin im Kabinett von Premier Mario Draghi

«Wir haben eine historische Chance, Italien sozial und wirtschaftlich wiederzuvereinigen», sagt Carfagna. Sie sagt tatsächlich Wiedervereinigung, «riunificazione». Als sei Italien mal ein einig Land gewesen und dann getrennt worden. Wie Deutschland. «Unsere Mauer ist nicht sichtbar, wie es die deutsche war», sagt sie. Sie sei aber sehr wohl da und trenne den Norden vom Süden, man erkenne die Mauer an der Ungleichheit der Rechte.

«Im Mezzogiorno haben die Menschen nicht dieselben Dienstleistungen. Schulen, Kinderkrippen, Spitäler, Infrastrukturen – alles ist weniger gut ausgestattet als im Norden.» Und jetzt gebe es da über Nacht die einmalige Möglichkeit, die Mauer niederzureissen.

Sie bemüht noch eine andere Metapher: «Das ist der letzte Zug. Den dürfen wir nicht verpassen», sagt sie. Der ganze politische Betrieb habe das verstanden, darum werde Draghi ja auch von einer so breiten Mehrheit im Parlament getragen, die Parteien hätten einen «Nichtangriffspakt» geschlossen. Nun, sehr nachhaltig ist Frieden unter italienischen Parteien nie, mag der Einsatz noch so gross sein: Eigentlich streiten sie immer, auch jetzt. (Lesen Sie dazu: «Draghi steht vor einer monströsen Herausforderung».)

Mitglied von Berlusconis Partei Forza Italia

Die Juristin Carfagna gehört zu Forza Italia, der Partei von Silvio Berlusconi. Der war auch ihr Trauzeuge. Viermal wurde sie ins Parlament gewählt, von 2008 bis 2011 war sie Berlusconis Ministerin für Gleichstellungsfragen.

Weil die Italiener sie aber einst als Showgirl am Fernsehen und als Teilnehmerin von Misswahlen kennen gelernt hatten, macht es den Anschein, als wollte sie ständig allen beweisen, dass sie auf der Höhe ihrer politischen Rolle ist. Alle Statistiken kennt sie auswendig, alle Programmpunkte, jede Jahreszahl.

Vereidigung als Gleichstellungsministerin: Mara Carfagna und Premier Silvio Berlusconi, 8. Mai 2008.

Sie sagt gern «target», Ziel, und «milestones», Meilensteine. Italienische Politiker benutzen sonst selten englische Begriffe. Draghi macht das auch, aber Draghi ist kein Politiker. Für Carfagna ist der Premier einfach «fuoriclasse», Weltklasse. «Wer hätte es vor einem halben Jahr schon für möglich gehalten, dass Italien seinen Wiederaufbauplan vor allen anderen Ländern in Brüssel deponieren würde?», fragt sie.

Vor einem halben Jahr war noch Giuseppe Conte Premier, und Forza Italia sass in der Opposition. Alle Hoffnung liegt auf Draghi, wenn der nur genügend Zeit hat für die vielen Wunder, die er wirken soll.

Jugend soll Arbeit im Mezzogiorno finden

Das grösste Wunder erwarten sie im Süden. See- und Flughäfen? Neu. Das Schnellzugnetz? Endlich ausgedehnt bis nach Bari, nach Reggio Calabria, nach Palermo und Catania. Strassen, Brücken, Tunnel? Begonnenes soll endlich fertiggestellt werden. Vierzig Prozent aller Mittel, die Italien in den Wiederaufbau steckt, sind für den Süden bestimmt, auch für Kitas, Universitäten, Kliniken. Die Jugend des Mezzogiorno soll nicht mehr wegziehen müssen für die Arbeit: Sie soll sie daheim finden. Das ist das Ziel.

Alles soll neu werden, null Komma plötzlich, damit das Geld für den Wiederaufbau nicht verpufft.

Neulich verglich auch die Zeitung «La Repubblica» den Moment mit jenem nach dem Berliner Mauerfall, eine Doppelseite gab es dazu. Der süditalienische Philosoph und Autor Isaia Sales erklärte da, dass es Italien seit 160 Jahren am politischen Willen fehle, gewissermassen an der inneren Motivation, den Süden auch wirklich auf den Entwicklungsstand des Nordens zu heben. Also seit der Einheit des Landes. Wobei: Einen Versuch gab es schon, mit der Cassa per il Mezzogiorno.

Die Entwicklungsbank für den Süden, gegründet 1950, koordinierte während etwas mehr als dreissig Jahren grosse Investitionen in Industrie, Infrastruktur, Landwirtschaft, auch in die Bildung. Der Wirtschaftsboom nach dem Krieg gelang auch deshalb, weil der Süden daran teilhatte und dazu beitrug.

Doch so gross wie der Kraftakt für die deutsche Wiedervereinigung war die Bemühung der Cassa nicht. Mehr als 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts investierte Rom pro Jahr nie in den Süden. Deutschland, schreibt Sales, habe sich seine Anstrengung mindestens fünfmal so viel kosten lassen.

Die Reformen bergen Gefahr

Natürlich lässt sich der Osten Deutschlands nicht einfach so mit dem Süden Italiens vergleichen, aus tausend Gründen. Doch die Sache mit dem politischen Willen gilt da wie dort. Und Mara Carfagna ist davon überzeugt, dass das Bewusstsein in der Politik diesmal so scharf und breit gestreut sei wie nie zuvor. «Nach der Pandemie ist nichts mehr wie vor der Pandemie», sagt sie.

Dennoch fragen sich die Italiener, wie eine heterogene Regierungsmehrheit wie Draghis sich über all die Reformen einigen will, die man in Brüssel von Italien erwartet und die das Land auch nötig hat. Alles soll neu werden, ziemlich null Komma plötzlich, damit das Geld für den Wiederaufbau nicht verpufft, wie das früher oft der Fall war. Gerade im Süden.

Die verkrustete Verwaltung soll vereinfacht werden, die notorisch langsame Justiz muss schneller werden, ganze Wirtschaftszweige sollen liberalisiert werden. «Habe ich etwas vergessen?», fragt Carfagna und dreht sich um zu ihrem Berater. Der schüttelt den Kopf.

Die Reformen bergen aber auch Gefahren, vor allem jene, die alles schneller und einfacher machen sollen. Einfacher heisst zum Beispiel: weniger Hürden bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen. Passt man nicht sehr gut auf, profitiert vor allem die Mafia von den schlankeren Prozeduren. Die sizilianische Cosa Nostra, die kalabrische ’Ndrangheta und die kampanische Camorra – mit ihren Strohfirmen ist es den wendigen Kartellen schon bisher oft gelungen, an lukrative Aufträge und öffentliche Zuschüsse zu kommen.

Warum soll das nicht auch jetzt so sein? «Schauen Sie», sagt Carfagna, «wir werden alles daransetzen, damit das nicht passiert. Das ist eine absolute Priorität.»

Brücke über die Meerenge von Messina? «Wir werden sie bauen»

Der Appetit der Mafia aber ist geweckt, so viel Geld stand noch nie auf dem Spiel. Sogar von der Brücke über die Meerenge von Messina wird wieder gesprochen, der Landverbindung für Auto und Zug zwischen Sizilien und dem italienischen Festland, an der engsten Stelle sind es ja nur etwa drei Kilometer.

Seit Jahrzehnten poppt das Vorhaben immer wieder auf und bleibt hochkontrovers: Der Boden ist erdbebengefährdet, starke Winde ziehen durch den Stretto, Zugvögel könnten ihre Orientierung verlieren. «Wir werden die Brücke bauen», sagt Carfagna. Ganz bestimmt, die Pläne lägen bereit. Wann, wenn nicht jetzt?

Vor ein paar Tagen ist es Mara Carfagna gelungen, ein anderes Gesetz für Messina durchs Parlament zu bringen – ein Umsiedlungsprojekt für 100 Millionen Euro. Menschen, die schon lange in einer schändlichen Barackensiedlung der Stadt leben, sollen endlich schönere Wohnungen erhalten. Die Baracken, muss man dazu wissen, sind nach dem grossen Erdbeben gebaut worden – dem Beben von 1908.