Kritik an Justiz «Die Schweiz behandelt Klimaaktivisten wie Terroristen»
Jérémy (22) sitzt seit zwei Monaten in U-Haft statt im Hörsaal. Ihm wird vorgeworfen, Autos angezündet haben. Anwälte beklagen, dass sich die Fronten zwischen Justiz und Aktivisten verhärten.
Der 22-jährige Klimaaktivist Jérémy (Name geändert) sollte heute eigentlich in einem Hörsaal der Universität Genf sitzen und Soziologievorlesungen folgen. Stattdessen sitzt er seit zwei Monaten im berüchtigten, weil notorisch überfüllten Genfer Gefängnis Champ-Dollon in Untersuchungshaft.
Jérémy teilt sich eine Zelle mit drei Mitgefangenen. Pro Tag kann er den Raum während einer Stunde verlassen, pro Woche darf er eine Stunde Sport treiben. Ein Bundesrichter hat Jérémys Rekurs am 12. Mai in letzter Instanz abgelehnt und sein Haftregime bestätigt. Erst im Juni könnte er freikommen. Vorausgesetzt, die Staatsanwaltschaft beantragt keine Haftverlängerung.
Der Fall von Jérémy zeigt, wie sich in der Romandie die Konfrontation zwischen Klimaaktivisten und der Justiz verschärft hat. Die Inhaftierung eines 22-jährigen Studenten ohne Strafregistereintrag ist eine neue Stufe einer fortlaufenden Eskalation.
Brand und Sabotage
Die Staatsanwaltschaft wirft dem 22-Jährigen vor, am 4. Januar 2022 bei einer Kiesgrube des Zementkonzerns LafargeHolcim in Laconnex GE nachts Fahrzeuge in Brand gesetzt und weitere Fahrzeuge sabotiert zu haben. In derselben Nacht wurde die Fassade eines Bürogebäudes mit Beschimpfungen wie «Scheiss-Holcim» und «Arbeiterinnen, legt eure Patrons um» besprayt. Aktivisten werfen dem Zementhersteller seit Jahren vor, einer der weltweiten grössten Klimasünder zu sein.
Die Polizei hat Jérémys DNA auf einem Gegenstand in der Grube sichergestellt. Im Keller seiner Wohngemeinschaft entdeckte sie Benzinkanister. Zudem soll sich Jérémys Mobiltelefon am 25. Dezember 2021 mit einer bei der Holcim-Grube gelegenen Handyantenne verbunden haben. In Haft sitzt er hauptsächlich, weil die Staatsanwaltschaft beim 22-Jährigen von einer «Fluchtgefahr» und «Verdunkelungsgefahr» ausgeht und nach Mittätern sucht. Beim Holcim-Steinbruch fand sie einen Handschuh mit DNA-Material, das nicht Jérémy gehört.
Jérémy will mit der Tat nichts zu tun haben. In seinem Fall fällt auf, dass die Genfer Staatsanwaltschaft seit dem 15. Juni 2022 im Besitz eines Haftbefehls war, den 22-jährigen Klimaaktivisten aber erst im März 2023 verhaftete. Der Zugriff fand also 15 Monate nach dem Brandanschlag auf Holcim statt. Im Mai 2022 hatte die Staatsanwaltschaft Jérémy zu einer Einvernahme aufgeboten, bei der Holcim aber kein Thema war. Die Staatsanwaltschaft befragte den 22-Jährigen als Auskunftsperson zu Graffiti-Sprayereien bei einem Genfer Shoppingcenter. Jérémy verweigerte jede Aussage, worauf die Staatsanwaltschaft ihn wegen der Sprayereien von einer Auskunftsperson zum Mitbeschuldigten machte und verurteilte, seine DNA analysieren liess und diese Daten jetzt im Holcim-Verfahren verwendet.
«Das Vorgehen ist politisch motiviert und verletzt das Recht auf einen fairen Prozess.»
Es sei «absolut unverhältnismässig, ja absurd, wie die Justiz mit Jérémy umgeht», wehrt sich sein Verteidiger, der Genfer Anwalt Olivier Peter. «Das Vorgehen ist politisch motiviert und verletzt das Recht auf einen fairen Prozess.» Die Vorwürfe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr seien ohne «jede Grundlage». Es gehe einzig darum, den Druck auf seinen Klienten zu erhöhen. Dessen Computer und Handy seien versiegelt, was der Justiz nicht passe, so Anwalt Peter. Dabei habe Jérémy längst eingewilligt, den Ermittlern Zugang zu Nachrichten und E-Mails zu geben, für einen Monat vor und einen Monat nach dem Holcim-Fall, um eine Fishing-Expedition zu verhindern.
«Alle Gerichtsinstanzen haben festgestellt, dass die Inhaftierung des Beschuldigten in der gegenwärtigen Situation dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entspricht.»
Dass die Genfer Staatsanwaltschaft Jérémy zu hart anfasst, dementiert deren Sprecher Olivier Francey. Er sagt: «Alle Gerichtsinstanzen haben festgestellt, dass die Inhaftierung des Beschuldigten in der gegenwärtigen Situation dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entspricht.» Seine Behörde beantrage Haft, wenn sie einen Beschuldigten dringend verdächtige, ein Verbrechen oder Vergehen begangen zu haben, und Fluchtgefahr, Kollusionsgefahr oder Wiederholungsgefahr bestehe.
Ein Fiasko für die Justiz
In der Eskalation im Konflikt zwischen Westschweizer Klimaaktivisten und der Justiz nimmt der Zementkonzern Holcim eine Nebenrolle ein. In einem prominenten Fall wollte die Waadtländer Staatsanwaltschaft die Konzerninteressen gegen die Forderungen der Klimaaktivisten schützen und kassierte am Ende vor der Justiz eine schallende Ohrfeige.
Ab Oktober 2019 besetzten Aktivisten in Eclépens VD einen Hügel beim Holcim-Steinbruch Mormont. Mit einer ZAD (Zone à défendre) wollten Aktivisten verhindern, dass Holcim seinen Steinbruch erweitert. Anfang 2021 wurde das Protestcamp aufgelöst. Die Polizei brachte über 50 Aktivisten ins Gefängnis Blécherette nach Lausanne und hielt sie dort fast 24 Stunden fest.
Mehrere Aktivisten weigerten sich, ihre Identität offenzulegen. Aus Platzgründen konnte die Staatsanwaltschaft nicht Dutzende Personen in Untersuchungshaft nehmen, wollte die Aktivisten aber nicht ohne Strafbescheid entlassen. Sie registrierte deren Fingerabdrücke und händigte allen einen Strafbefehl aus. Eine unbedingte Gefängnisstrafe von zwei Monaten lautete das Strafmass für jeden einzelnen.
Die Verurteilten fochten die Urteile an und enthüllten ihre Identitäten auch vor Gericht nicht. Der Lausanner Anwalt David Raedler und weitere Juristen standen ihnen als Verteidiger bei. Für die Waadtländer Staatsanwaltschaft wurden die Strafprozesse zum Fiasko.
Die Mandanten trugen Pseudonyme wie «Bob» und «Kleine Blume». Deren wirkliche Namen kannte Anwalt Raedler teils selbst nicht. Anonyme Angeschuldigte könnten nicht direkt mit einem Strafbefehl verurteilt und ins Gefängnis gesteckt werden, befanden die Richter.
«Der Staat behandelt Klimaaktivisten wie Terroristen.»
Für den Lausanner Anwalt Raedler ist nicht nur wegen dieses Beispiels klar: «Der Staat hat im Umgang mit den Klimaaktivisten jede Verhältnismässigkeit verloren. Er behandelt sie wie Terroristen und verliert die wahren Probleme rund um die Zerstörung des Planeten aus den Augen.» Raedler sagt dies, nachdem er Anfang Mai vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona einen von drei angeklagten Klimaaktivisten verteidigt hat und auf dem Weg in den Gerichtssaal gemäss eigenen Angaben 30 Polizisten und 5 Polizeihunde hat passieren müssen.
Aufruf zum Militärboykott
Die drei jungen Männer hatten im Mai 2021 zu einem «Militärboykott» aufgerufen, weil sie die Armee für «umweltschädlich, nationalistisch und teuer» hielten, und forderten, «dass die Armee radikal reformiert oder abgeschafft wird». (Diese Zeitung hat über den Fall berichtet.) SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor forderte die Bundesanwaltschaft auf, wegen «Aufforderung und Verleitung zur Verletzung militärischer Dienstpflichten» einzuschreiten. Seine Anzeige gegen unbekannt druckte Addor auf ein offizielles Briefpapier des Parlaments.
Anwalt Raedler plädierte vor dem Bundesstrafgericht, die Aufforderung zum Militärboykott sei keine Straftat, sondern sei durch das Recht auf freie Meinungsäusserung geschützt. Die Beschuldigten hätten weder die nationale Sicherheit gefährdet noch seien sie gefährliche Individuen. Sein Urteil dürfte der Einzelrichter in einigen Wochen bekannt geben. Selbst im Fall von Freisprüchen ist für Raedler heute schon klar: «Die Justiz baut auf die Klimaaktivisten ein Höchstmass an Druck auf, um sie von ihrem Engagement abzubringen.»
«Das Bundesgericht beginnt, ein gewisses Unbehagen im bisherigen Umgang mit Aktivisten zu zeigen.»
Sind die Fronten wirklich derart verhärtet? Wie die Justiz mit den Aktivisten umgeht, findet auch die Genfer Anwältin Laïla Batou weitgehend problematisch. Das Bundesgericht hat jüngst einen ihrer Klienten verurteilt, weil dieser auf einer Bankfassade der Credit Suisse einen roten Handabdruck hinterliess. Trotz Verurteilung betont das Gericht, das Engagement für den Klimaschutz sei gerechtfertigt. «Das Bundesgericht beginnt, ein gewisses Unbehagen im bisherigen Umgang mit Aktivisten zu zeigen», analysiert Laïla Batou. «Offensichtlich fühlt es sich angesichts der moralischen Legitimität des Kampfes für das Klima unwohl und macht nun eine unjuristische Unterscheidung zwischen guten und schlechten Aktivisten: Diejenigen, die den Kapitalismus anprangern, finden in seinen Augen keine Gnade.»
Den Umgang des Schweizer Rechtsstaats mit Klimaaktivisten versuchen Westschweizer Anwälte nun via den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiter zu regeln. Das Gericht in Strassburg hat in diversen Fällen entschieden, eigene Urteile zu fällen. Laïla Batou sagt: «Im Umgang mit den Klimaaktivisten geht es auch um die Zukunft unseres Rechtsstaats und den Schutz der Meinungsfreiheit.»
Bis das Gericht in Strassburg Klarheit schafft, dürfte es noch einige Zeit dauern. Der 22-jährige Jérémy dürfte dann zumal wieder im Vorlesungssaal sitzen und seinen Soziologievorlesungen folgen.
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