Pro und kontra WiderspruchslösungWerden uns jetzt die Organe wider Willen entnommen?
Wir alle sollen zu Organspendern werden, wenn wir nicht widersprechen. Gewinnen wir mit dieser Lösung mehr Organe? Oder setzen wir zu viel Druck auf? Die Debatte zur Abstimmung vom 15. Mai wird auch auf der Redaktion kontrovers geführt.
Ja
Was ist mehr wert: das Leben heilbarer Kranker oder die körperliche Integrität Verstorbener? Und was zählt mehr: die kollektive Vermeidung von Todesfällen oder das individuelle Recht auf Verdrängen?
Es sind anspruchsvolle ethische Fragen, mit denen uns die Abstimmung zur erweiterten Widerspruchslösung bei der Organspende konfrontiert. Aber es sind Fragen, denen wir uns als Gesellschaft nicht länger entziehen sollten. Denn Jahr für Jahr sterben in der Schweiz bis zu 100 Kinder, Jugendliche und Erwachsene jeden Alters, weil sie vergeblich auf ein neues Herz, eine neue Niere oder Leber gewartet haben. Diese Todesfälle wären vermeidbar. Diese Menschen sterben, obwohl es ausreichend Spendewillige gäbe.
Repräsentative Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung grundsätzlich bereit wäre, nach dem Tod die eigenen Organe zu spenden. Einen Spenderausweis hat jedoch nur jede sechste Person. Vielen ist die Registrierung zu mühsam – und viele mögen sich nicht detailliert mit Fragen zum Tod auseinandersetzen.
Mit ihrem Verdrängen lasten sie den Angehörigen aber eine gewaltige Bürde auf. Diese müssen im Todesfall in einer emotionalen Situation und unter Zeitdruck entscheiden, ob dem Vater oder der Partnerin die Organe entnommen werden dürfen, wenn kein Wille dokumentiert ist. Haben die Angehörigen Zweifel, entscheiden sie sich dagegen – in bis zu 70 Prozent der Fälle.
Die erweiterte Widerspruchslösung kehrt deshalb den bisherigen Grundsatz um: Nicht die Organspender müssen zu Lebzeiten explizit ihren Willen festhalten, sondern die Spendeunwilligen. Auf diese Weise sollen administrative Hürden fallen, der Diskurs über den letzten Willen gefördert – und vor allem hundertfach Leben gerettet werden. Immerhin warten jährlich rund 1500 Menschen auf ein neues Organ.
Die Angehörigen behalten, anders als uns manche Gegner glauben machen wollen, in jedem Fall ihr Vetorecht. Wenn die Verstorbene es versäumt hat, ihr Nein festzuhalten, können ihre Liebsten doch noch widersprechen. In anderen europäischen Ländern hat sich diese Regelung längst bewährt.
Den Behörden erwächst damit eine Verantwortung: Sie müssen sicherstellen, dass die gesamte Bevölkerung über die Widerspruchslösung informiert ist. Der Bund will das mit einer breiten Kampagne erreichen. In der Pflicht ist aber auch die Ärzteschaft: Im Kontakt mit den Patienten sollte diese Aufklärung zum Standard werden.
Mit dieser doppelten Absicherung, dem Vetorecht der Angehörigen und der breiten Informationskampagne, stellen wir sicher, dass niemandem gegen den eigenen Willen Organe entnommen werden, wie es die Gegnerschaft wider besseres Wissen behauptet. Ebenfalls faktenwidrig ist die Aussage, wonach die Organentnahme an noch halb lebenden Personen vorgenommen werde. An den medizinisch bewährten Abläufen ändert sich nichts.
Ja oder Nein zur Widerspruchslösung? Entscheidend sind moralische Erwägungen und die grundsätzliche Einstellung zur Organspende. Jede und jeder sollte sich dazu fragen: Würde ich auf ein neues Organ verzichten, wenn ich eines bräuchte?
Die Antwort dürfte meist «Nein» lauten – und sollte damit konsequenterweise auch die Frage klären, ob man selber spenden würde. Gleichzeitig verdeutlicht diese Anspruchshaltung, dass wir in der Schweiz ausreichend Spenderorgane brauchen. Mit der Widerspruchslösung schaffen wir die entscheidende Voraussetzung dafür.
Nein
Das Selbstbestimmungsrecht des Individuums hat in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert – in immer mehr Bereichen. Umso erstaunlicher ist es, dass das Recht am eigenen Körper zum Lebensende plötzlich nicht mehr uneingeschränkt gelten soll. Wer zu Lebzeiten schweigt, wird zum potenziellen Organspender, zur Organspenderin. Künftig dürfen nach dem Hirntod Organe entnommen werden, wenn der Betreffende dies nicht ausgeschlossen hat.
Begründet wird dieser Paradigmenwechsel mit dem Mangel an Herzen, Lungen, Lebern oder Nieren, mit denen die Leben von Menschen gerettet werden können, die dringend auf ein Organ angewiesen sind. Diese Schwerkranken sind in einer Notlage, und es ist ihnen von Herzen zu gönnen, wenn sich rechtzeitig Spendewillige finden lassen. Nur dürfen zur Gewinnung von Spenderorganen nicht fundamentale Rechtsgrundsätze ausgehebelt werden.
Zwar können die Angehörigen das Veto einlegen, wenn ein ihnen nahestehender Mensch hirntot auf der Intensivstation liegt. Anders als die Befürworter der Widerspruchslösung behaupten, werden die Angehörigen aber durch die neue Regelung nicht zwangsläufig entlastet, wenn sie den Willen des Sterbenden nicht kennen. Viele werden sich in dieser Situation auch weiterhin gegen die Organspende aussprechen wollen, weil sie gegenüber dem Nächsten nichts Falsches machen möchten. Gleichzeitig wird mit der Widerspruchslösung per Gesetz ein Erwartungsdruck erzeugt, die Organspende fast zur Bürgerpflicht erhoben. Die Widerspruchslösung erhöht das Dilemma der Angehörigen also eher noch, und das unter der emotionalen Last des nahen Todes eines Nächsten. Ob da die neue Regelung zu wesentlich mehr Organspenden führt, ist fraglich.
Allen Umfragen zum Trotz, wonach über 80 Prozent zur Organspende bereit sein sollen, drücken sich viele um eine klare Aussage. Nur wenige besitzen einen Spenderausweis. Über die Gründe lässt sich bloss spekulieren. Vermutlich beschleicht viele beim Gedanken, den Hirntod zu erleiden und danach zur Organspende freigegeben zu werden, ein mulmiges Gefühl. Gleichzeitig finden die meisten die Organspende eine sinnvolle Sache, nicht zuletzt weil sie selber auch auf ein Organ angewiesen sein könnten.
Von dieser Ambivalenz befreit uns die Widerspruchslösung nicht. Wahrscheinlich werden auch künftig viele Angehörige den Willen ihrer Nächsten nicht genau kennen. Dass in solchen Situationen einfach angenommen wird, die Todgeweihten auf der Intensivstation hätten die Organspende befürwortet, ist unzulässig. Ebenso ist es eine Illusion, zu glauben, mit einer Informationskampagne könnten alle Erwachsenen über die Widerspruchslösung ausreichend in Kenntnis gesetzt werden, damit alle Spendeunwilligen rechtzeitig festhalten, dass sie nicht spenden wollen.
Die Haltung, dass die eigenen Organe durch die Spende einem anderen Menschen zum Weiterleben verhelfen sollen, ist lobenswert. Aber es muss klar sein, ob jemand diese Haltung vertrat. Sonst manifestiert sich in der Gesellschaft eine Anspruchshaltung, sie bemächtigt sich der menschlichen Körper am Lebensende und degradiert diese zum Ersatzteillager.
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