Wenn Kinder unbemerkt für ihre Eltern sorgen
Die Not von Kindern psychisch kranker Eltern ist oft unsichtbar. Ein Grund mehr, weshalb wir uns nicht nur für die eigenen Töchter und Söhne interessieren sollten.
Ich glaube, ich war etwa acht, als mein Schulgspändli Andi mich über Mittag mal mit zu sich nach Hause nahm.
Ich, die gewohnt war, dass das Mittagessen beim Heimkommen ordentlich auf dem Tisch steht, war erstmal ziemlich überrascht ob der fremden Welt, die mir dort entgegenschlug. Und ebenso fasziniert von seiner Mutter, die auf dem Sofa sass und einzig «Oh, ihr seid schon da…» murmelte, bevor sie sich wieder in sich selbst zurückzog.
Doch als Andi und ich ganz alleine Omeletten brutzelten und diese genauso alleine assen, fühlte ich mich wie Pippi Langstrumpf in der Villa Kunterbunt, und ich war mir sicher, dass dieses abenteuerliche Essen der Beginn einer wunderbaren Freundschaft ist. Doch dem war nicht so. Andi lud mich nie wieder zu sich ein. Schlimmer noch: Ab diesem Tag wich er mir regelrecht aus, was ich nicht verstand und mich traurig machte.
Zu grosse Verantwortung für Kinderschultern
Erst viel später fiel mir auf, wie bedrückt der eben noch so fröhliche Andi wurde, als seine Mutter so gar nicht auf uns reagiert hatte. Und dass er das Mittagessen wohl darum so routiniert zubereitet hatte, weil er dies oft und nicht einfach aus Spass am Kochen tat. Erst viele Jahre später erkannte ich in Andis Mutter eine depressive Frau. Und verstand, dass Andi mir wohl darum aus dem Weg gegangen ist, weil er sich für das offengelegte Geheimnis schämte. Erst Jahrzehnte später lernte ich den Begriff «parentifizierte Kinder» kennen. Damit sind Kinder gemeint, die in einer Rollenumdrehung leben und für ihre Eltern, sich selbst und nicht selten für das ganze Familiensystem eine viel zu grosse Verantwortung tragen, weil die Eltern nicht dazu in der Lage sind.
Gemäss dem Kinderpsychiater Kurt Albermann leben in der Schweiz bis zu 300’000 Kinder, bei denen mindestens ein Elternteil psychisch krank ist. Zwei Drittel dieser Kinder fallen in der Schule, im Hort oder in der Nachbarschaft durch ihr Verhalten oder Lernschwierigkeiten auf. Dadurch wird nicht selten ein Heer von Psychologen, Sozialarbeitern bis hin zur KESB aufs Feld gerufen, was der Not der Kinder im besten Fall eine Stimme verleiht.
Solange diese Kinder die Probleme auf ihre Kappe nehmen, müssen sie ihre Eltern nicht infrage stellen.
Doch von diesen Kindern soll heute nicht die Rede sein. Heute möchte ich von jenem Drittel Kinder psychisch kranker Eltern reden, welches gegen aussen keine Auffälligkeiten zeigt. Kinder, die häufig angepasst und äusserst pflichtbewusst sind und deren Familien durchaus intakt scheinen. Kinder wie Andi, die mit einer stillen, aber umso heimtückischeren Überlebensstrategie durch ihre Not gehen. Solange diese Kinder die Probleme auf ihre Kappe nehmen, müssen sie ihre Eltern nicht infrage stellen. Solange sie im Haushalt helfen, gute Noten schreiben, ihr Zimmer aufräumen und auch sonst keinen Ärger machen, glauben sie, ein Stück Macht zu besitzen und den Eltern bei der Genesung zu helfen. Schliesslich muss der Grund ihrer Trauer, Erschöpfung oder Wut doch bei ihnen liegen! Davon sind Kinder in ihrer Abhängigkeit und Egozentriertheit ja leider fast immer überzeugt.
Ein Tabu auf Kosten der Kinder
Dieser Weg hat einen hohen Preis, sofern er von niemandem erkannt wird. Denn in diesem viel zu engen Korsett aus Schuldgefühlen und Überforderung wird ihre eigene lebendige Basis erstickt. Diese Kinder lernen nicht, ihre Gefühle ernst zu nehmen, sondern verknüpfen ihr Bedürfnis nach Liebe mit dem Erbringen von Leistung. Der dadurch früh angesiedelte Leistungszwang mündet in ihrem Erwachsenenalter nicht selten ebenfalls im Burnout oder einer Depression. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch sie psychisch erkranken, ist hoch.
Früh haben solche Kinder verinnerlicht, dass man in der Öffentlichkeit zwar über Beinbrüche, aber nicht über Trauer, Angst und Gewalt redet. Schon gar nicht über jene ihrer Eltern, deren Integrität und Liebe sie durch ihr Schweigen zu schützen versuchen.
Denn psychische Erkrankungen sind nach wie vor ein Tabu. Und psychisch kranken Eltern fällt es selbst ganz besonders schwer, dieses zu durchbrechen. Die Scham und die Angst sind zu gross. Zudem ist es für Menschen, denen bereits die Zubereitung einer Mahlzeit zu viel ist, oft unvorstellbar schwer, sich Hilfe zu holen, sodass eine Veränderung immer schwieriger wird.
Was also können wir für diese vergessenen Kinder tun, deren Leiden so schwer erkennbar ist? Keinesfalls darf es nun darum gehen, jedes Kind nach unauffälligen Auffälligkeiten zu scannen. Doch jede liebevolle Beziehung ausserhalb des Systems stärkt ihre Resilienz. Jeder ehrlich interessierte Blick kann matchentscheidend sein, ob sie an dieser Herausforderung wachsen oder zerbrechen werden. Ein Grund mehr also für uns alle, uns nicht nur für die eigenen Kinder zu interessieren.
Erleichternde Wahrheiten
Ausserdem sollten wir lernen, über psychische Krankheiten mit der gleichen Selbstverständlichkeit zu reden, wie wir das über eine Bänderzerrung tun. Wenn wir aufhören, diese künstliche Grenze zwischen körperlich und seelischer Not zu ziehen, die eine als berechtigt und die andere als «das darf nicht sein» zu kategorisieren, wäre ein grosser Schritt in die richtige Richtung getan.
Wenn Kinder eines Tages dem Lehrer oder der Nachbarin genauso frei erzählen, dass der Papa an einer Depression leidet, wie, dass er sich das Bein gebrochen hat, schützen sie ihre Eltern nicht weiter durch Schweigen. Und sie könnten sich damit aus einer Verantwortung befreien, die sie nicht zu tragen haben.
So könnten aus unsichtbaren Kindern Kinder werden, die endlich bekommen, was sie und ihre Eltern so dringend bräuchten: Gesehen zu werden als die Menschen, die sie sind. Mit allem, was zu ihnen gehört. Und nicht nur mit dem, was gesellschaftlich anerkannt ist.
Dieser Artikel wurde erstmals am 21. Juli 2020 publiziert und am 20. Juli 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.
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