Petras BuchzeichenWenn Gurken verschwinden
Seit ich mich mit Verbrechen beschäftige, gehe ich oft vom Schlimmsten aus.
Denke ich schlechter über Menschen, seit ich Kriminalromane schreibe? Das werde ich immer wieder gefragt, und bis jetzt habe ich jedes Mal verneint. Sicher, ich beschäftige mich mit den dunklen Seiten der Gesellschaft. Ich lese viel über Verbrechen, rede mit Menschen, die Straftaten begangen haben, und setze mich mit ihren Motiven und Methoden auseinander. Ich hatte jedoch immer das Gefühl, dass meine Sicht auf die Menschheit dadurch nicht düsterer geworden ist.
Bis letzte Woche.
An dieser Stelle muss ich erklären, dass mein Leben nicht nur aus Schreiben und Lesen besteht. Ich bin auch eine leidenschaftliche Gärtnerin. Seit mehreren Jahren baue ich zusammen mit meinem Sohn in unserem Schrebergarten Gemüse, Beeren und Obst an. Wir nehmen die Sache sehr ernst. Die Aufzucht der Setzlinge beginnt bereits im Januar mit Kunstlicht, jedes Pflänzlein wird gehätschelt und getätschelt.
Den Wetterbericht lese ich fast so aufmerksam wie die Anmerkungen der Lektorin zu meinem neuen Roman. Bei der kleinsten Veränderung heisst es: Vlies montieren oder entfernen, Frühbeet öffnen oder schliessen, giessen, beschatten oder mulchen. Ja, ich weiss, Pflanzen ertragen weit mehr, als ich ihnen zutraue. Ich kann einfach nicht anders. Das Blatt eines Forellensalatsetzlings ist so zart, der Wurzelhals eines jungen Fenchels so dünn. Ein Garten ist ein gefährlicher Ort. Es lauern Maulwurfsgrillen, Erdflöhe, Läuse und Schnecken. Ich habe Flaschen aufgestellt, um die Vögel zu vertreiben, den Mais eingezäunt, um ihn vor dem Dachs zu schützen. Natürlich kommt es trotzdem zu schmerzlichen Verlusten, aber damit konnte ich leben.
Bis letzte Woche.
Ich hatte eigentlich nicht vor, in den Garten zu gehen. Er liegt ein Stück von meiner Wohnung entfernt, und ich musste an diesem Tag viel erledigen. Eine Weihnachtsgeschichte fertig schreiben, meine Website aktualisieren. Aber ich hatte meine Familie zum Essen eingeladen und wollte einen Gurkensalat machen. Im Garten wuchs gerade ein Prachtexemplar heran, also schwang ich mich aufs Velo. Zwanzig Minuten später fuhr ich auf das eingezäunte Areal zu. Dass Schrebergärten vor Eindringlingen geschützt werden müssen, bedrückt mich. Anscheinend gibt es Menschen, die Gemüse stehlen. Ich konnte mir das nie so richtig vorstellen.
Mein Garten liegt in der Mitte des Areals, eine Mispel mit sperrigen Ästen und ein Pawpaw-Baum schirmen ihn zum Weg ab. Darunter blühen Schafgarbe, Goldmelisse und Heckenzwiebeln. Bevor ich die Gartenschere aus dem Schuppen holte, machte ich einen Kontrollgang. Die Spargelerbse, mein Sorgenkind, war immer noch nicht gewachsen. Dafür hatten die Süsskartoffeln das Kohlbeet erobert. Ich ging weiter zur Gurkenpflanze.
Die reife Gurke war weg.
Eine ganze Weile starrte ich fassungslos auf die Stelle, an der sie gehangen hatte. Mir fiel das abgeschlossene Tor ein. Agatha Christies «Mord im Orient-Express». Ein Verbrechen in einem geschlossenen Raum. Ich dachte an die Menschen, die ich hier kennen gelernt hatte. Den Süditaliener, der mir Catalogna-Samen aus seiner Heimat mitbringt. Den Gartenzwergliebhaber, der jedes Jahr seine Zwerge frisch bemalt. Die Wirtin, die unter Knieschmerzen leidet, und den Rentner, der mir gezeigt hat, wie man Schneckenfallen baut. Sie alle sind Teil meines Lebens geworden. Und nun soll einer von ihnen einen Diebstahl begangen haben?
Betrübt und ohne Gurke ging ich wieder nach Hause. Meine Gedanken kreisten um die Menschheit. Ich habe gelesen, dass zwölf Prozent der Bevölkerung mindestens einmal im Leben straffällig werden. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer. Sind wir also von Grund auf böse? Ist es nur die Erziehung, die uns zu sozialverträglichen Wesen macht?
Zu Hause setzte ich mich an meinen Laptop und versuchte, mich auf meine Weihnachtsgeschichte zu konzentrieren. Es fiel mir schwer. Ich dachte an Egoistinnen, Narzissten und Psychopathinnen. Später, beim Kochen, an die individuelle Nutzenmaximierung. An Menschen, die einen Schaden für andere bereitwillig in Kauf nehmen, um sich zu bereichern.
Ich war froh, als es endlich an der Tür klingelte. Meine Familie würde mich auf andere Gedanken bringen. Ich öffnete, und mein Sohn stand mit einer Schüssel in der Hand vor mir. Er strahlte mich an. «Ich habe einen Gurkensalat gemacht. Im Garten wuchs gerade ein Prachtexemplar!»
Krimiautorin Petra Ivanov gewährt in ihrer Kolumne Einblicke in ihr Leben als Schriftstellerin.
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