Rettungskräfte kämpfen mit Problemen «Das ist eine nie da gewesene Herausforderung»
Noch bestehen gute Chancen, Verschüttete im Erdbebengebiet zu bergen. Doch die Situation für die Rettungskräfte ist schwierig. Vor Ort sind nun auch Helfer der Schweizer Armee.

«Das ist mehr als ein Erdbeben», sagt Murat Harun Öngören, Kordinator des türkischen Such- und Rettungsvereins Akut. «Das ist eine Katastrophe.» Angesichts des Ausmasses sei es schwierig, in den ersten 72 Stunden sicherzustellen, dass die Menschen die richtige Hilfe bekommen. Teamkoordination, Transport und logistische Probleme seien eine Herausforderung.
Öngören glaubt, dass die tatsächliche Zahl der eingestürzten Gebäude die bisher bestätigte Zahl bei weitem übersteigt. Deshalb vermutet er auch deutlich mehr Opfer, wie er dem «Guardian» sagte. «Wir stehen vor einer schwierigen Operation.» Eine Vertreterin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwies darauf, bei Erdbeben sei die Zahl der Todesopfer am Ende oft «achtmal höher als die ersten Bilanzen».
Im Einsatzgebiet angekommen sind mittlerweile auch 29 Angehörige der Schweizer Armee Ein erstes Team sei bei Trümmern im Einsatz, wo man noch lebende Verschüttete vermute, sagt Alessio Marazza, Oberst im Generalstab. Mitgenommen haben sie Baumaschinen wie Betonschneider und Bohrhammer. Mit Hilfe dieser und anderer Maschinen sollen die Verschütteten aus den Trümmern geholt werden. Dies sei die primäre Aufgabe der 20 Durchdiener des Kommandos Katastrophenhilfebereitschaftsverband, sagt Marazza.
Der Stabsschef des Lehrverbands Genie, Rettung und ABC sieht noch gute Chancen, Verschüttete lebend zu retten. «Wenn es kalt ist, dehydriert man weniger und lebt länger unter Trümmern als im Sommer.» Es sei sogar möglich, drei bis vier Tage zu überleben.
Ein Schneesturm droht
Allerdings sind die Temperaturen in den Erdbebengebieten in der Türkei zurzeit eisig. In der schwer getroffenen Stadt Gaziantep seien in der Nacht auf minus 5 Grad gesunken, sagte der Chef des Katastrophenschutzes, Orhan Tatar. Schlechte Internetverbindungen und beschädigte Strassen zwischen einigen der am stärksten betroffenen türkischen Städte behindern die Rettungsteams. «Es könnte schwierig werden, die Such- und Rettungsteams in die Region zu transportieren.»
Viele Menschen können zudem nicht in ihre Häuser zurück, weil diese eingestürzt sind oder eine Rückkehr zu gefährlich wäre. Auch die Suchanstrengungen werden wegen der Nachbeben noch gefährlicher. Ein drohender Schneesturm könnte die Situation nach Einschätzung der Hilfsorganisation Care noch verschärfen. Die Türkei bat ihre Nato-Partner deshalb unter anderem um drei für extreme Wetterbedingungen geeignete Feldkrankenhäuser und Personal für deren Einrichtung.
«Dieses Erdbeben hat 13,5 Millionen unserer Bürger direkt betroffen», sagte Städteminister Murat Kurum. «Der Schmerz ist unbeschreiblich.» Er betonte, dass bei vergangenen Beben Menschen auch noch nach 100 Stunden gerettet worden seien. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtet, in der südtürkischen Stadt Antakya seien zwei Frauen nach rund 30 Stunden unter Trümmern lebend geborgen worden.
In Sanliurfa im Südosten der Türkei arbeiteten sich die Einsatzkräfte in der Nacht durch die Überreste eines mehrstöckigen Gebäudes. «Da ist eine Familie, die ich kenne, unter den Trümmern», sagte ein Student. «Bis gegen Mittag hat meine Freundin noch auf Anrufe reagiert. Aber jetzt antwortet sie nicht mehr», fügte der 20-Jährige hinzu. «Sie muss irgendwo unter den Trümmern sein.»
Grosse Probleme in Syrien
Auch Retter in Syrien vermuten, dass noch immer Hunderte Familien unter den Trümmern begraben sind. Die Suche über Nacht sei aufgrund von Sturm und fehlender Ausrüstung nur «sehr langsam» verlaufen, hiess es von den Weisshelmen, die in den von Rebellen gehaltenen Gebieten in der Region Idlib aktiv sind. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte seien zudem auch Mediziner überfordert und könnten nicht allen Verletzten das Leben retten.
«Das ist eine nie da gewesene Herausforderung. Das ist in Zahlen nicht zu fassen», sagte der Direktor der Hilfsorganisation Ärzte der Welt Deutschland, François De Keersmaeker, der Deutschen Presse-Agentur. «Die Bilder sind einfach schrecklich. Die Zerstörung ist immens.» Die Nothilfe sei aktuell schwierig, weil die Helfer sich erst einmal selbst in Sicherheit bringen oder umorganisieren müssten, sagte De Keersmaeker.
Ein Sprecher des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) sagte gegenüber Reuters, dass der Transport kritischer Hilfsgüter aus der Türkei in den Nordwesten Syriens am Dienstagmorgen aufgrund von Strassenschäden und anderen logistischen Problemen vorübergehend eingestellt worden sei. «Wir wissen nicht, wann Transporte wieder möglich sind.»
Syrien sei zudem in rechtlicher und diplomatischer Hinsicht eine Grauzone», sagt Marc Schakal, der Leiter des Syrien-Programms der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Schakal befürchtet, dass die lokalen und internationalen Hilfsorganisationen mit der Situation in Syrien überfordert sein werden. Dort herrscht seit zwölf Jahren Bürgerkrieg, Rebellen, Dschihadisten, kurdische Kräfte und Regierungstruppen stehen sich gegenüber, Machthaber Baschar al-Assad wird von Russland und dem Iran unterstützt und vom Westen geächtet.
Die Hilfe für Syrien sei besonders dringend, da «die Lage der Bevölkerung bereits vor dem Erdbeben dramatisch war», sagt Raphaël Pitti von der französischen Nichtregierungsorganisation Mehad. Er sorgt sich vor allem um die Menschen in der Provinz Idlib. In der von Rebellen und Islamisten kontrollierten Region im Nordwesten Syriens leben 4,8 Millionen Menschen, die nur schwer erreicht werden können. Fast die gesamte humanitäre Hilfe kommt über Bab al-Hawa – den einzigen, durch eine UN-Resolution garantierten Übergang der türkisch-syrischen Grenze.
Damaskus und Moskau sehen durch den Übergang die syrische Souveränität verletzt, im Laufe der Zeit wurde Bab al-Hawa immer weiter verkleinert. Durch die Mengen an dem nach dem Erdbeben benötigtem Material könnte die Passage demnächst schnell verstopft sein. Dass andere frühere Grenzübergänge wieder geöffnet werden, halten Experten für unwahrscheinlich.
Pitti geht davon aus, dass Erdbebengebiete, die unter der Autorität Damaskus› stehen, wahrscheinlich internationale Hilfe erhalten. Er fürchtet, dass Idlib, wo auch 2,8 Millionen Binnenflüchtlinge leben, leer ausgehen könnte, zumal das Nachbarland Türkei mit den eigenen Opfern beschäftigt sei.
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AFP/SDA/nlu
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