«Herr der Ringe» in der SchiffbauhalleWenn die Orks nicht wirklich böse sind
Schauspielhaus-Intendant Nicolas Stemann hat zusammen mit dem Theater Hora und dem Helmi-Puppentheater Berlin eine «Herr der Ringe»-Variation erarbeitet.

21 Personen, einundzwanzig!, spielen, tanzen und musizieren in der begehbaren Inszenierung «Riesenhaft in Mittelerde». Zudem sind ständig Menschen mit Livecams in der Schiffbauhalle unterwegs und sonstiges unterstützendes Personal. Und nicht zuletzt wir, das Premierenpublikum, das – mit einem Plan in der Hand, wie im Europapark – an verschiedenen Stationen vorbeischlendert, so an der «Taverne zum Crazy Horst» oder dem «Turm der Verwandlung». Gesäumt wird der Rundgang auch von kleinen Seitentribünen, teils mit Puppen aller möglichen und unmöglichen Geschöpfe ausstaffiert. In der Mitte auf dem «Marktplatz» erhebt sich die Haupttribüne.
Und überall produzieren sich die Bewohnerinnen und Bewohner von Mittelerde: Zum Auftakt der zweieinhalbstündigen Vorstellung herrscht ein Wallen und Wuseln, dass es eine Wonne ist – Volksfestatmosphäre im Auenland. Doch «das Böse» hat bekanntlich längst Eingang gefunden in die Welt der gemütlichen Hobbits, schönen Elfen, der Menschen, Zauberer und Zwerge. Aber keine Sorge: Man muss den Klassiker, das Fantasy-Epos «The Lord of the Rings» (1954) von J.R.R. Tolkien, nicht kennen, um folgen zu können.
Überhaupt ist die Story im Detail nicht das Entscheidende, schliesslich wollen die Regisseure Nicolas Stemann (Schauspielhaus Zürich), Stephan Stock (Theater Hora) und Florian Loycke (Helmi-Puppentheater Berlin) keine theatrale «Neuverfilmung» des über 150 Millionen Mal verkauften Romans stemmen. Sondern die Inszenierung fusst auf der Feier der Gemeinschaft, der Inklusion, und sie zelebriert die (Fantasy-)Welterschaffung aus dem Geist des Fandoms und der Kritik.

Tatsächlich soll das Zürcher Theater Hora, das kognitiv Beeinträchtigten eine Bühne gibt, den Stoff vorgeschlagen haben: Weil «Herr der Ringe» bei vielen Horas Kult ist und sie sich darin deutlich mehr daheim fühlen als so mancher «Hausi». Ein Schauspielhaus-Ensemble-Mitglied präsentiert sich denn auch mit den Worten: «Hallo, ich bin Kay Kysela. Ich mag eher Arthouse-Filme als Fantasy. Und heute Abend spiel ich Frodo, den Ringträger, weil dieser genauso wenig Ahnung hat von dem Ganzen wie ich.»
Alle Mitspielenden werden sich vorstellen, die Fans und jene, die mit dem Epos fremdeln, sich an seinem inhärenten Sexismus und Rassismus reiben: Eigentlich sind die Orks nicht böse, zeigt sich beim gemeinsamen Herantasten, das ein wesentlicher Teil der fraglos riesenhaften Inszenierung ist. «Den eigenen Weg gemeinsam zu zeichnen, zu schreiben, zu bauen und zu begehen, gehört zur Fantasy», postuliert das Programmheft.
Gebaut hat Katrin Nottrodt eine Chilbi mit vielen Show-Plätzen, Bühnchen und Balkonen. Mit Orten für die Band, für kleine Zuschauertribünen – man darf aber auch herumgehen oder sich auf den Boden setzen – und für immense Leinwände, auf denen mal zerklüftete Berglandschaften zu sehen sind, mal der Bunker vom Üetliberg, später lodernde Feuer und zwischendurch die Live-Action. Anders gesagt: Nottrodt hat das volle Potenzial der Schiffbauhalle ausgespielt, um sämtliche Akteure, Publikum inklusive, in den Kosmos einzubinden.
Alle gehen mit: Das inklusive Fest
An Aufwand wurde nicht gespart, und die Atmosphäre bezaubert buchstäblich. Allerdings lebt auch eine begehbare Inszenierung nicht 150 Minuten lang von Atmosphäre allein. So werden Kernszenen gespielt: etwa jene, in der sich alle bei Halb-Elf Elrond (Lukas Vögler) und seiner hier vorwitzigen Tochter Arwen (Caitlin Friedly) versammeln, um zu entscheiden, wie mit dem Macht verleihenden Ring umzugehen sei. Am Ende begleiten der Hobbit Sam (Max Reichert), Zauberer Gandalf (Nikolai Gralak), Elf Legolas (Vincent Basse), Zwerg Gimli (Florian Loycke), Hobbit Bilbo (Gottfried Breitfuss), die Menschen Boromir (Felix Loycke) und Aragorn (Sängerin Cora Frost) und nicht zuletzt Tolkien-Nachfahre Brian (Brian Morrow) den Ringträger Frodo auf seiner gefährlichen Reise zum feurigen Schlund, in dem er den Ring versenken soll.
Die unangenehme Wahrheit ist, dass diese Szenen zwar durchaus richtig gewählt und gesetzt sind, aber rhythmisch nicht selten misslungen. Man könnte auch sagen: länglich und dabei oft von einer ins Peinliche lappenden Harmlosigkeit – selbst dann, wenn eine Fabienne Villiger, eine Tabita Johannes sich grossartig in einen gruseligen Gollum verwandeln oder das Helmi-Puppentheater mit einem apokalyptischen Tanz der Bäume besticht.

Gelungen sind hingegen die Lieder, die Hausherr Nicolas Stemann am Klavier begleitet und vermutlich auch grossteils selbst geschrieben hat (weitere Musiker: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel). Etwa der strenge Choral «Die Welt ist im Wandel», der die nahende Katastrophe ankündigt, oder das diktatorisch trommelnde «Ein Ring, sie zu knechten» über unsere zerstörerische Machtgier. So recht zum Mitschunkeln gerät auch das beswingte Bejubeln der Gemeinschaft «It’s a Long Long Way».
«Riesenhaft …» bietet immer wieder flotte Unterhaltung, und das nicht ohne selbstironisch und gesellschaftskritisch aufgeraute Zwischenquiekser. In ihrer ganzen Wucht, ihrer Länge und, ja, ihrer Bemühtheit macht die Vorstellung die Zuschauenden jedoch auf die Dauer eher zu angestrengten Zeugen eines idealistischen Projekts als zu animierten – oder gar inkludierten – Theaterbesuchenden.
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