Interview zum Schweiz-Image «Wenn bei den Banken etwas wackelt, wackelt die Schweiz»
Der Historiker Georg Kreis empfiehlt der Bevölkerung, zu akzeptieren, dass unser Land «normal» ist – und kein Sonderfall. Und er sagt: Politische Korrektheit ist wichtig.

Herr Kreis, manche nennen die Schweiz nach dem CS-Debakel eine Bananenrepublik. Andere glauben, dass dies langfristig keinen Einfluss auf die Selbst- und die Aussenwahrnehmung des Landes hat. Wie sehen Sie das?
Es gibt, wie stets, unterschiedliche, ja gegensätzliche Einschätzungen – und keine Einheitsschweiz. Unsere Gesellschaft ist ein Kompositum und zudem stets in Bewegung. Aber es trifft zu: Die Banken nehmen im Selbstbild und in wirtschaftlich-politischer Hinsicht eine wichtige Rolle ein. Seit dem Ersten Weltkrieg hat die Schweiz als Finanzplatz eine herausragende Position. Vorher war sie eher Objekt ausländischer Banken als selbstständiger Akteur. Heute wird gern flapsig gesagt: Die Schweiz hat nicht Banken, sie ist eine Bank. Dieser Teil des Schweiz-Images reicht, wie etwa bei «Asterix und Obelix», bis in die Welt der Comics hinein. Das CS-Debakel löst also eine berechtigte Aufregung aus: Wir haben einen Vorgang erlebt, der im Gegensatz zum positiven Selbstbild steht.

Was ist denn schweizerisch an den Schweizer Banken?
Wahrscheinlich sind es die guten Dienstleistungen. In den Grossbanken steckt viel Internationalität drin, ausländisches Geld, ausländische Topmanager, Verbindlichkeiten im Ausland. Doch ihre «Swissness» spielt immer noch und ist ein Marketingtool. Wenn da was wackelt, dann wackelt die Schweiz. Trotzdem oder gerade deswegen wäre mehr Gelassenheit angebracht.
Gelassenheit? Es gehen ja auch zahlreiche Arbeitsplätze verloren.
Gelassen heisst nicht gleichgültig.
Worauf zielen Sie ab?
Krisen soll man ernst nehmen, Krisenhaftigkeit aber auch ohne grosse Aufregung als Normalität verstehen. Dazu hat der Fall Mitholz wenige Tage nach dem Fall CS, in anderen Proportionen, aber mit der gleichen Grundproblematik, ein weiteres Beispiel geliefert. Nachdem 2020 festgelegt worden war, dass dieses Berner Dorf evakuiert wird, damit ein altes Munitionslager saniert werden kann – ein Projekt, für das insgesamt zwei Milliarden Franken veranschlagt sind –, kam plötzlich Unsicherheit auf. Der Fahrplan wurde vorübergehend angehalten, die Politik brauchte eine zusätzlich Beratungsschlaufe – und Direktbetroffene verloren ihr Vertrauen in die Behörden.
«Es stellt sich das Grundgefühl ein, dass die Schweiz nicht mehr so gut aufgestellt ist.»
Viele Leute in Mitholz waren und bleiben verunsichert.
Wir müssten uns darauf einstellen, dass komplexe Dinge geschehen und man Lösungen verfolgt, die vielleicht nicht von Dauer sind. Manchmal denke ich, die ganze Schweiz ist Mitholz. Es stellt sich in der Allgemeinheit das Grundgefühl ein, dass die Schweiz nicht mehr so gut aufgestellt ist – um dieses Modewort zu verwenden –, wie man das erwartet. Alte Krisen werden dank digitalem Archiv schnell in Erinnerung gerufen, die früheren PUK, das Swissair-Grounding, das UBS-Debakel, das hat aber seinen Schrecken verloren. Anderes ist völlig in Vergessenheit geraten. Wer erinnert sich heute noch, dass der Bundesrat 1996 verkündete, dass 260’000 Rinder wegen der BSE-Seuche getötet werden müssten? Am Schluss waren es 1100. Als Historiker kann man dafür sorgen, dass auch solche Vorkommnisse im Gedächtnis bleiben.
Stellen Sie die kollektive Enttäuschung gegenüber einer Schweiz fest, die nicht ihrem Selbstbild entspricht?
Mir wäre Ernüchterung lieber. Ich halte es für wünschenswert, dass man die Unwägbarkeiten, die schwierigen Entscheidungsfindungen als Normalität begreift. Führung kann nicht heissen, dass man Entscheide fällt, die für ewig gültig sind. Es gibt keine wasserdichten Strategien, die auf Dogmen fussen und für immer funktionieren. Auch angesichts von Engpässen in der Energieversorgung kam es zu voreiligen Fehleinschätzungen. Zurück blieb der Eindruck, dass die Schweiz nicht mehr ein Wasserschloss, sondern nur noch ein Wasserschlössli sei.
Stellt all dies auch das Selbstbild als idealer Sonderfall infrage?
Noch immer ist es offenbar unvermeidlich, auch davon zu reden. Die Schweiz darf sich ruhig als Sonderfall verstehen, aber eben als normalen Sonderfall, wie jedes Land auf seine Weise – nicht als besonderen. In den 1990er-Jahren versuchte man, diesen Sonderfall-Mühlstein abzuschütteln. Selbst Bundesräte sagten damals «Nein, die Schweiz ist kein Sonderfall». Doch auch dieses Narrativ verläuft in Konjunkturen und hat zwischendurch wieder Aufwind.
Was für einen Stand hat die Sonderfall-Rhetorik nach dem CS-Kollaps?
Im Moment sind diejenigen, die am positiven Sonderfall unbedingt festhalten wollen, wieder in einer etwas schwächeren Position. Es könnte sein, dass nun etwas nüchterner politisiert wird und die Realität im Vergleich zur Sonderfall-Idealisierung eher wahrgenommen wird. Ursprünglich hatte die Vorstellung vom Sonderfall ja ihre Berechtigung, wenn man sich mit den nicht demokratischen Nachbargesellschaften verglich. Aber mittlerweile sind die Unterschiede nicht mehr derart essenziell.
«Auch im Kalten Krieg war die Schweiz ein westlicher Neutraler und kein neutraler Neutraler.»
Die Schweiz erlebt nun, dass auch ihre Neutralität hinterfragt wird.
Auch die Neutralität ist Teil des stereotypen Selbstbildes und hat dogmatischen Charakter. Sie gehört zur sogenannten schweizerischen Identität. Aber was die Aussenpolitik macht und schlicht machen muss, ist dann etwas anderes. Wenn ein Neutralitätspapst wie der ehemalige Bundesrat Christoph Blocher in den USA ein gemeinsames Dokument zur «Terrorbekämpfung» unterzeichnet, fragt niemand: Wie steht es mit unserer Neutralität? Die Anhänger einer dogmatischen Neutralität achten kaum darauf, wie praktische Politik funktioniert und wie flexibel die Neutralität in der Vergangenheit gehandhabt wurde. Auch im Kalten Krieg war die Schweiz ein westlicher Neutraler und kein neutraler Neutraler. Bis vor kurzem hatten wir ja immer diese tollen Ergebnisse von bis zu 98 Prozent Zustimmung zur Neutralität. Dies wird sich aber ändern.
Sollte die Schweiz bei Waffenlieferungen an die Ukraine pragmatischer vorgehen?
Ja, durchaus. Es kommen zwar nicht alle zu diesem Schluss, und es ist gut, dass derzeit darüber diskutiert wird. Dennoch zeigt sich jetzt und, historisch gesehen, immer wieder ein Paradox: Je fragwürdiger die praktizierte Neutralität jeweils war – und ist –, desto dogmatischer wurde – und wird – sie proklamiert. Mir scheint, dass der Bundesrat im Moment zögert, zu tun, was er aussenpolitisch wirklich tun müsste, weil er die angedrohte Neutralitätsinitiative fürchtet: Aussenpolitik als Innenpolitik.
Hat sich der Meinungskorridor in der Schweiz – zu deren Selbstbild das Bekenntnis zur Vielfalt zählt – verengt?
Möglicherweise. Ich sehe vor allem eine Tendenz in Richtung Polarisierung. Die häufigen Abstimmungsergebnisse um rund 50 Prozent belegen dies. Es gibt Leute, die über die «gespaltene Schweiz» klagen, sie aber aus machtpolitischen Gründen selbst heftig betreiben. Dabei gehen oft wichtige gesellschaftliche Fragen wie die Altersarmut oder die defizitäre Kinderbetreuung durch die öffentliche Hand unter. Mit dem weiteren Blick kann man sagen, dass die Schweiz auch in früheren Zeiten, etwa im 19. Jahrhundert oder in der Zwischenkriegszeit, nicht weniger gespalten war. Und die politischen Kräfte gehen immer wieder unterschiedliche und teils auch unheilige Allianzen zwischen den Flügeln ein.
«Political Correctness ist aus Respekt andern gegenüber wichtig.»
Derzeit haben sich auch in der Schweiz die polarisierenden Culture-Wars und Identitätsdebatten breitgemacht, Stichwort Wokeness. Dabei war man doch stolz auf Offenheit und Integrationsfähigkeit. Wie sehen Sie das als ehemaliger Präsident der eidgenössischen Rassismuskommission?
Für die Wahrung des sozialen Friedens ist die Norm der Political Correctness aus Respekt andern gegenüber wichtig. Das kann auch als gute Oberflächlichkeit oder schlicht als Höflichkeit bezeichnet werden. Andererseits sollten wir nicht mit dem Vorwurf, man betreibe übergriffig «kulturelle Aneignung», übertriebene Rücksichtnahme einfordern. Kultur ist ja per se ein Mischling. Überlegungen dazu sind aber gut, es darf und wird bei differierenden Beurteilungen bleiben. Auch das ist auszuhalten.
Gelassenheit auch hier? Könnten der Niedergang der Banken und die einhergehende Auflösung schweizerischer Selbstgewissheiten zu einer neuen, weniger rigiden Art von Identität führen?
Wir werden selbst in der kollektiven Dimension Identität stets im Plural haben – und allen Varianten wäre es zu wünschen, sie blieben einem Wechselspiel von Gewissheit und Ungewissheit ausgesetzt.
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