Interview mit GerichtspräsidentWelche Gerichtsfälle ihn nicht mehr loslassen
Jürg Meier geht nach über dreissig Jahren am Bezirksgericht Meilen in den Ruhestand. Der Oberriedner erzählt von schlaflosen Nächten und einem Brief, der ihn besonders freute.
Herr Meier, Sie waren dreissig Jahre lang Richter am Bezirksgericht Meilen, die letzten vierzehn Jahre auch Gerichtspräsident. Sie haben an Hunderten von Fällen mitgewirkt. An wie viele erinnern Sie sich noch?
An sehr viele. Als ich mein Büro geräumt habe, bin ich auf Kopien von Entscheiden gestossen, die ich längst vergessen hatte und die mir dann wieder in Erinnerung kamen. In meiner Zeit als Gerichtspräsident hat das Bezirksgericht Meilen rund 55’000 Fälle erledigt. Wie viele ich selbst übernommen habe, weiss ich allerdings nicht mehr.
An welche erinnern Sie sich gern?
Einmal hatte ich ein Scheidungsverfahren zweier über Achtzigjähriger. Die beiden schrieben mir danach in einem Briefchen, dass sie mich noch einmal als Richter haben wollten, wenn sie erneut heiraten und sich wieder scheiden lassen würden. Das fand ich rührend.
Die wenigsten Fälle dürften so sein.
Allerdings nicht. Am stärksten in Erinnerung bleiben natürlich die grossen Strafprozesse: der Küsnachter Galeristensohn, der seinen Freund tötete, und der sogenannte Badewannenmord in Küsnacht.
«Dass die Parteizugehörigkeit die Arbeit eines Richters wesentlich beeinflusst, bezweifle ich.»
Bei solch spektakulären Fällen stehen die Gerichte im Fokus der Öffentlichkeit und der Medien. Spürten Sie da jeweils Druck, ein bestimmtes Urteil fällen zu müssen?
Man merkt natürlich, dass man unter Beobachtung steht. Zudem wird die Justiz heute kritischer betrachtet als früher. Aber davon habe ich mich nicht beeinflussen lassen. Meine Aufgabe als Richter ist es, konzentriert und in aller Ruhe die Fakten zu sammeln, Details zu eruieren, daraus ein Bild des tatsächlichen Geschehens zu gewinnen und dann ein Urteil zu fällen.
Als Richter haben Sie eine enorme Macht. Wie gingen Sie damit um?
Bei grossen Fällen hatte ich die eine oder andere schlaflose Nacht. Manchmal ist dies aber gar nicht so schlecht, denn gerade dann kommt einem vielleicht ein Gedanke, wie man den Fall richtig angehen könnte. Im Übrigen beruht die Macht der Richter auf ihrer Aufgabe, die Gesetzestexte sprechen zu lassen. Dabei ist der Richter aber dem Recht und der höchstrichterlichen Rechtsprechung verpflichtet. Der Ermessensspielraum ist daher beschränkt.
«Aufbrausend auf aggressive Worte zu reagieren, ist nicht angebracht.»
Gerade bei diesem Ermessensspielraum wird aber oft die Parteizugehörigkeit der Richter kontrovers diskutiert. Sie selbst sind in der SVP. Welche Rolle spielt dies?
Dass die Parteizugehörigkeit die Arbeit eines Richters wesentlich beeinflusst, bezweifle ich. Jeder Richter weiss um seine Parteizugehörigkeit, seine Richterkollegen und die Parteien wissen es auch. Und er wiederum weiss, dass die anderen es auch wissen. Darauf muss er sich einstellen und darauf achten, jede Blösse tunlichst zu vermeiden. Bei einem Kollegialgericht ist man zudem in einer Dreierbesetzung tätig, da hat die Parteizugehörigkeit keinen nennenswerten Einfluss auf die Rechtsprechung. Bedeutender als die Parteizugehörigkeit oder Macht ist für die Richterfunktion meiner Meinung nach ohnehin eine andere Frage, nämlich jene der Autorität.
Wie meinen Sie das?
Autorität vermitteln kann nur, wer selbst darüber verfügt. Nicht die Entscheidungsgewalt des Richters als solche kann daher bereits seine Autorität ausmachen, sondern allein die Art und Weise ihrer Handhabung. Autorität setzt Würde und Anstand voraus.
Umgekehrt treten manche Beschuldigte dem Gericht gegenüber sehr aggressiv auf.
Eine gewisse Selbstkontrolle gehört zum Beruf. Aufbrausend auf aggressive Worte zu reagieren, ist nicht angebracht.
«Bei Berufskriminellen nützen moralische Appelle nichts.»
Sie haben Beschuldigten auch oft einige moralische Sätze mit auf den Weg gegeben. Haben Richter auch eine erzieherische Aufgabe?
(lacht) Grundsätzlich ist kein moralisches Urteil zu fällen, sondern ein rechtsstaatliches. Nicht angebracht sind daher flapsige Kommentare. Bei jugendlichen Straftätern hat die Botschaft «Schaut, dass ihr auf den richtigen Weg kommt» aber durchaus einen Nutzen. Es geht ja darum, bei ihnen nach Möglichkeit Hilfestellungen für künftiges Wohlverhalten zu initiieren. Bei Berufskriminellen nützen moralische Appelle dagegen nichts.
Beliebt macht man sich in Ihrem Job nicht gerade. Gab es auch Drohungen gegen Sie?
Nur einmal während eines familienrechtlichen Prozesses, als es darum ging, wer das Sorgerecht und die Obhut für das Kind erhält. In einem Strafverfahren habe ich das interessanterweise nie erlebt.
Dafür wurden Sie in diesen mit allen möglichen Schattenseiten des Lebens konfrontiert. Wann hat Sie dies besonders mitgenommen?
Vor allem wenn es um sexuelle Handlungen mit Kindern ging. Etwa beim Fall des pädophilen Ex-Clowns, der sich vor einigen Jahren an mehreren Kindern verging. Dieser Fall ist mir an die Nieren gegangen. Schwierig sind auch Kampfscheidungen, bei denen der Richter plötzlich zu einem Teil der Auseinandersetzung zu werden droht.
Kann ein Richter überhaupt noch ein positives Menschenbild haben?
Natürlich. Aber zu Beginn meiner Karriere war ich diesbezüglich sicher noch idealistischer.
Und was ist mit den Menschen, die vor Gericht stehen? Sind sie anders als früher?
Ich finde schon. Die Gesellschaft hat sich verändert. Vor dreissig Jahren standen vor allem Babyboomer vor Gericht. Sie verhielten sich anders als beispielsweise die Generation Y. Heute sind die Leute gegenüber der Justiz viel fordernder. Daneben hat wie in anderen Berufen auch die Autorität der Richterinnen und Richter ein wenig gelitten. Sie müssen sich heute viel mehr behaupten.
… und sich auch ständig der Rechtsprechung anpassen. Wie haben Sie dies erlebt?
Es hat sich tatsächlich viel geändert. Als ich 1986 als Auditor anfing, diskutierte man beispielsweise bei Scheidungsverfahren noch darüber, wer schuld an der Zerrüttung der Ehe war. Die Anwälte der Parteien haben schmutzige Wäsche gewaschen und taten das mit viel Theatralik. Mit dem neuen Scheidungsrecht, das im Jahre 2000 in Kraft trat, hat es einen Wandel in der Verhandlungskultur gegeben. Heute ist der Richter im Zivilprozess zunächst Vermittler. Die Verhandlung ist viel lösungsorientierter geworden. Erst wenn er den Streit nicht durch einen Vergleich beenden kann, entscheidet er diesen. Verändert hat sich vor allem auch der Aktenumfang im Strafprozess. Bei einem grossen Fall waren die Akten früher vielleicht zehn Zentimeter dick. Heute gibt es oft Fälle mit zehn bis zwanzig Bundesordnern.
Das Bezirksgericht Meilen ist mit dieser Entwicklung stetig gewachsen.
Seit meinen Anfängen hat sich die Belegschaft auf rund 60 Personen verdoppelt. Die Personalrekrutierung im Juristenbereich ist sehr aufwendig geworden. Unter anderem gehört die Ausbildung von Juristinnen und Juristen zu unserem Auftrag. Deren Ziel ist die Anwaltsprüfung, weshalb sie «bloss» eineinhalb bis zwei Jahre am Gericht bleiben. Ich habe während meiner Präsidentschaft rund 180 Auditorinnen und Auditoren angestellt. Ich bin stolz, dass das Bezirksgericht Meilen auch einen sehr guten Ruf als Ausbildungsbetrieb bei den jungen Juristinnen und Juristen geniesst. Mir war dies stets ein grosses Anliegen.
Für mehr Personal braucht es auch mehr Raum. Derzeit wird für das Gericht ein Ergänzungsbau erstellt. Wie stark hat Sie dieser beschäftigt?
Sehr stark. Als Gerichtspräsident ist man neben der Rechtsprechung – zusammen mit den anderen Gerichtsleitungsmitgliedern – auch für die Justizverwaltung zuständig, und der Ergänzungsbau fällt in diesen Bereich. Vor rund acht Jahren haben wir beim Kanton ein Raumbedarfsbegehren gestellt. Seither sind wir in den Prozess eingebunden. Wir haben ein Projektpflichtenheft erstellt und dann am Wettbewerb mitgewirkt. Als Mitglied des Projektausschusses habe ich an zahlreichen Sitzungen teilgenommen. Daneben habe ich auch Informationsveranstaltungen für die Nachbarschaft geleitet und die Gespräche mit den direkten Nachbarn geführt. Letztere haben sich sehr kooperativ verhalten, wofür ich ihnen sehr dankbar bin.
Der neue Ergänzungsbau wird im April 2023 fertig. Sie hingegen haben heute Ihren letzten Arbeitstag. Sind Sie traurig, dass Sie nicht mehr darin arbeiten können?
Nein, es freut mich vielmehr, dass ich meinen Mitarbeitenden einen fast fertigen Bau hinterlassen kann. Das Bezirksgericht Meilen führen zu dürfen, war für mich ein Privileg und eine Ehre. Ich fühlte mich all die Jahre von meinen Mitarbeitenden stark getragen. Dafür bin ich sehr dankbar. Meilen war für mich ein sehr schöner Arbeitsort.
Schön war auch Ihr Arbeitsweg: Sie fuhren jeden Tag von Ihrem Wohnort Oberrieden über den See.
Ich habe ausgerechnet, dass ich über 16’000-mal mit der Fähre zwischen Horgen und Meilen unterwegs war. Das ist ein wunderschöner Arbeitsweg, um abzuschalten: Man geht auf die Fähre und lässt den Berufsalltag hinter sich.
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