Online-Programm für Trauernde«Weinen muss nicht unangenehm sein»
Von einer Stunde auf die andere verlor Daniela Roth-Nater ihren Mann. Dank eines neuen Onlineportals und viel Bewegung in der Natur fand die 51-Jährige wieder ins Leben.
Es war kurz vor dem Lockdown. Mitte März 2020 erlitt der Mann von Daniela Roth-Nater auf dem Velo einen Herzinfarkt. Kurz darauf verstarb er, mit erst 49. Und die Winterthurerin stand alleine mit vier Kindern da. Wegen Corona war damals nicht einmal eine grössere Abschiedsfeier möglich. Das Leben hatte ganz plötzlich eine unerwartete Wende genommen.
Trotz grossen Schocks fühlte sie sich in diesen ersten Wochen gut aufgehoben. Die Familie lebt in einer grösseren Wohngemeinschaft. «Es war sehr traurig, aber wir hatten einander», blickt die Frau zurück. Zudem sei sie damals viel gelaufen, und auch heute noch spult sie pro Woche rund 30 Kilometer ab. «Der Sport ist für mich eine Kraftquelle und gibt mir die Möglichkeit, allein zu sein.»
Psychologische Begleitung
Im Trauerprozess half der Witwe auch das Onlineprogramm Solena, das sich an Menschen wendet, die ihren Partner oder ihre Partnerin verloren haben. In einem Telefongespräch klärt eine Psychologin der Universität Bern zuerst ab, ob sich das Angebot für die Interessierten auch eignet. Falls ja, können sie während zehn Wochen je ein Kapitel mit verschiedenen Themen und Aufgaben bearbeiten. Dabei werden sie mittels persönlicher Mails begleitet und zum Dranbleiben ermutigt. Zudem werden sie regelmässig zu ihrem Befinden befragt. Zeichnet sich ab, dass sie persönliche Hilfe benötigen, meldet sich eine Psychologin bei ihnen.
Die Verantwortlichen empfehlen, das Programm etwa ein halbes Jahr nach dem Verlust durchzuarbeiten. Daniela Roth-Nater ist jedoch erst zwei Jahre später darauf gestossen. Ein Jahr früher hätte sie wohl noch mehr profitiert, sagt sie. Aber sie sei darin bestätigt worden, dass sie auf dem richtigen Weg ist.
Über Bedürfnisse sprechen
Viel geholfen hat ihr in der ersten Zeit das Reflektieren, Schreiben und Psalmenlesen. Und da sie und ihr Mann Freunde in den USA haben, teilte sie ihre Gedanken in einem tagebuchartigen Blog. Eine Herausforderung waren Einladungen zu Familientreffen. Mit dem Programm Solena wurde ihr noch bewusster, dass es anderen hilft, wenn sie ihre Bedürfnisse kundtut: Oft fühlt sie sich bereit, über den Verlust zu sprechen, doch manchmal sagt sie, sie wolle nicht darüber reden. «Auch Weinen muss nicht unangenehm sein, und Stille sollte man aushalten», betont sie. Ihre Kinder, die damals im Alter zwischen 11 und 20 waren, seien ebenfalls sehr unterschiedlich mit der Situation umgegangen. Ein Sohn habe niemandem etwas erzählt, eine Tochter dagegen sehr offen darüber gesprochen.
Die Betriebsökonomin und Sozialbegleiterin hat sich entschieden, ihre bisherigen Jobs beizubehalten, ebenso ihr Mandat im Winterthurer Stadtparlament, das sie kurz vor dem einschneidenden Ereignis angetreten hatte. «Die Politik bereitet mir viel Freude», sagt die EVP-Parlamentarierin, die sich auch in der reformierten Kirche engagiert. «Die verschiedenen Aufgaben geben mir Struktur und Halt.»
Kürzlich hat sie nun endlich den Grabstein für ihren verstorbenen Mann ausgelesen. Bei der Bearbeitung von «Solena» habe sie erkannt, dass dies ein weiterer Schritt im Trauerprozess sein kann. Das Programm sei sehr gut aufgebaut und führe gedanklich immer weiter in die Tiefe. Sie schätzte zudem die Anonymität und zeitliche Ungebundenheit. Eine Beratung bei einer Fachperson oder einer Selbsthilfegruppe wäre ihr zu viel gewesen. Unterdessen gehe es ihr der Situation entsprechend gut, sagt Daniela Roth-Nater. «Ich werde immer ein Rucksäckli zu tragen haben. Doch ich habe schon viele Steine abgeladen, sodass es jetzt einigermassen passt.»
Anhaltende Störung vermeiden
Das Programm Solena wird gleichzeitig in der Schweiz, in Portugal und Holland auf seine Wirksamkeit getestet. Es baut auf dem Modell des Hin- und Herpendelns zwischen Verarbeitung und Blick in die Zukunft auf. Diese beiden Elemente sollten gut ausbalanciert sein, erklärt Jeannette Brodbeck, Projektleiterin und Psychotherapeutin an der Universität Bern. «Wenn der Trauerprozess nicht gut verläuft, kann sich eine anhaltende Trauerstörung entwickeln, die mit starkem emotionalem Schmerz und Beeinträchtigungen im Alltag einhergeht.» Wichtige Aufgaben seien zudem, die Realität des Verlustes zu akzeptieren, den Schmerz zuzulassen, sich an eine Welt ohne den verstorbenen Menschen anzupassen und ihm trotzdem einen Platz darin zu geben.
Das Onlineportal ist leicht verständlich gestaltet, sodass es auch von älteren Menschen mit nur rudimentären digitalen Kenntnissen genutzt werden kann. Sie sollten jedoch über relativ gute Lese- und Artikulationsfähigkeiten verfügen, um die verschiedenen schriftlichen Aufgaben erfüllen zu können. Das Instrument sei eine gute Ergänzung zu anderen Angeboten, erklärt Psychotherapeutin Brodbeck. «Viele Trauernde wollen andere nicht belasten und sprechen deshalb wenig über ihre Gefühle.»
Er fiel in ein Loch, als seine Frau starb
Auch Erwin Hofer (Name geändert) hat von «Solena» profitiert. Im Frühling ist seine Frau gestorben, nachdem er sie zwei Jahre lang gepflegt hatte. Die beiden waren fast 50 Jahre verheiratet. «Ich bin total in ein Loch gefallen», sagt der 75-Jährige aus dem Limmattal. Besonders schwierig sei es gewesen, weil die Pflege seiner Frau einen grossen Teil seiner Zeit beanspruchte und er danach plötzlich ohne Aufgabe dastand. Zudem fiel seine wichtigste Gesprächspartnerin weg.
Das Onlineprogramm forderte den Witwer heraus, sich auch mit Fragen auseinanderzusetzen wie etwa, was er hätte besser machen können in der Beziehung. Zudem regte es ihn an, sich aktiv mit den Erinnerungen zu beschäftigen. Hofer hat nun seine umfangreiche Dia-Sammlung aus dem Keller geholt, die auf zahlreichen Reisen mit seiner Frau entstanden ist. Er sortiert die Bilder, scannt sie ein und schaut sie mit seinen beiden Kindern wieder an.
Zudem hat der pensionierte Bauingenieur den Kontakt zu Studienkollegen wieder aufgefrischt. Zusammen besichtigen die Männer alte Brücken und andere Bauwerke. Auch Spaziergänge und Krafttraining macht er jetzt wieder regelmässig. «Es gibt immer noch Tage, an denen mir die Decke auf den Kopf fällt», räumt er ein. «Doch das Programm hat mir geholfen, wieder einigermassen Fuss zu fassen.»
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