Sittlichkeitsprozess gegen FrauenWegen ihrer nackten Brüste mussten sie vor Gericht
Eine Gruppe junger Frauen spazierte 2021 am Internationalen Frauentag mit entblösstem Oberkörper durch Lausanne. Die Behörden sahen darin einen Verstoss gegen die öffentliche Ordnung.
Für jede Aktion zur Stärkung der Frauenrechte feiert sich die Stadt Lausanne in lauten Tönen. Doch jetzt zeigt sich: Nicht alle Städterinnen und Städter scheinen in demselben Geist zu leben. Eine Gruppe junger Frauen musste am Donnerstag vor dem Polizeigericht erscheinen, weil sie gegen die Moral und die öffentliche Ordnung der Stadt verstossen haben soll. Was war passiert?
Die Frauen waren am Mittag des 8. März 2021 mit nacktem Oberkörper vom Bahnhof Lausanne zum nahe gelegenen Platz Saint-François spaziert. Die Aktion am Internationalen Tag der Frau hatte ein klares Ziel. Die Aktivistinnen wollten der Bevölkerung die männliche Dominanz im öffentlichen Raum und die Sexualisierung der Frau in der heutigen Gesellschaft vor Augen führen.
«Frauen werden mit perfektem Körper inszeniert, sexualisiert und zu Lustobjekten gemacht.»
Über die Kundgebung, an der rund 20 Frauen teilnahmen, sagt eine Beteiligte beim Prozess: «Frauen dienen im öffentlichen Raum oft für Werbezwecke. Man inszeniert sie mit perfektem Körper, man sexualisiert sie und macht sie zu Lustobjekten.» Vor dieser Realität habe man zeigen wollen, dass jede weibliche Brust, wie auch immer sie aussehe, ein natürlicher Teil eines Frauenkörpers sei, wie eine Hand, ein Mund oder das Haar.
Sowieso sei es mit Blick auf die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann ungerecht, wenn Männer sich im öffentlichen Raum mit nacktem Oberkörper zeigen dürften, während man von Frauen erwarte, dass sie denselben Körperteil verhüllen.
Seine Wirkung verfehlte der Spaziergang nicht. Jedoch nahm er eine andere Wendung, als dies die Aktivistinnen gewünscht hatten.
Polizei holt Frauen von der Strasse
Die nackten Brüste in Lausannes Strassen fielen Stadtpolizisten jedenfalls rasch auf. Sie nahmen die Frauen kurzerhand in Gewahrsam und beorderten sie zu Befragungen zum Polizeiposten. Die Behörden warfen den Frauen gleich mehrere Straftaten vor: Störung der öffentlichen Ordnung, Verstoss gegen den Anstand oder die öffentliche Moral und die Missachtung des Epidemiengesetzes und insbesondere des darin enthaltenen Kundgebungsverbots für Gruppen über 15 Personen.
Am Ende entschied die Präfektin (Oberamtsfrau) des Bezirks Lausanne den Fall. Auch sie sah mehrfache Strafrechtsverstösse und verschickte entsprechende Strafbefehle. Die Präfektin verrechnete für eine Busse und die Untersuchungskosten jeweils 360 Franken.
6 der 20 Frauen akzeptierten die Kollektivstrafe nicht. Sie waren nicht bereit, sich kriminalisieren zu lassen. Am Donnerstag stellten sie sich einem Strafprozess vor dem Lausanner Polizeigericht.
Die Frauen sprachen erst beim Schlusswort. Das Reden überliessen sie ihren Anwältinnen. Diese forderten Einzelrichter Giovanni Intignano auf, ihre Klientinnen von allen Anschuldigungen freizusprechen. Sie betonten, die Frauen hätten weder die öffentliche Ordnung gestört noch die öffentliche Moral missachtet und schon gar nicht gegen das Epidemiengesetz verstossen, zumal der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz erst im März dafür verurteilt habe, die Grundrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger unzulässig eingeschränkt zu haben, weil die Kundgebungsverbote während der Pandemie zu restriktiv waren.
Für Anwältin Rhoxane Sheybani, die eine der sechs Frauen vertrat, ging es im Fall des Frauenprotests um Grundsätzliches. Sie sagte: «Die Gerichte sollten nicht die gesellschaftliche Intoleranz schützen, die selbst nicht durch das Gesetz geschützt ist. Andernfalls schützen Gerichte Vorurteile, nicht aber Menschen.» Sheybani rief Einzelrichter Intignano zudem in Erinnerung, dass Passanten während der Kundgebung die nackten Oberkörper der Frauen filmten, dass die Polizei sich aber ausschliesslich um die Aktivistinnen kümmerten und sich für die Frage, was die Filmenden mit ihren Videos anstellten, nicht interessierte.
Busse reduziert, aber kein Freispruch
Der Einzelrichter hat die Frauen wegen eines Verstosses gegen das Epidemiengesetz verurteilt, sprach sie aber von sämtlichen restlichen Vorwürfen frei. Busse und Untersuchungskosten reduzierte er von 360 auf 250 Franken.
Die Aktivistinnen reagierten erleichtert auf die Strafmilderung, obwohl der Richter in der Grösse der Protestgruppe weiter einen Verstoss gegen das Epidemiengesetz sah und eine Verurteilung in einem Teilpunkt damit bestehen blieb. Sie warten nun das schriftliche Urteil ab und entscheiden dann, ob sie dagegen rekurrieren. Der Einzelrichter versicherte den Frauen, dass die Justiz mit Frauenanliegen sensibel umgehe, ermahnte sie aber auch, bei künftigen Kundgebungen weiter friedlich zu bleiben.
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