Mamablog: Verlorene LebenskunstWas wir von Kleinkindern lernen können
Der Weg zu mehr Achtsamkeit muss nicht zwingend über die Migrosklubschule führen. Mit kleinen Kindern geht es bedeutend günstiger.
Ich hatte nie wirklich über sie nachgedacht. Nie erkannt, wie zentral sie in unserem Leben stets gewesen ist. Warum auch – sie war ja immer da. Doch jetzt, wo sie es eben nicht mehr ist, trifft mich ihr Verschwinden mitten ins Herz. Dabei war sie für mich längst nicht immer ein Quell der Freude gewesen. Manchmal habe ich mich über sie geärgert, sie regelrecht verwunschen. Zum Beispiel, wenn wir wieder mal zu spät dran waren oder wenn sie die Kinder von oben bis unten nass machte. Wie an jenem Morgen im Herbst, als ich zwei «pflotschnasse» Zwerge in die zwei Nummern zu kleinen Hosen-für-Notfälle zwängen musste, die im Bauch des Buggys vor sich hingammelten.
Fakt ist – die Pfütze gehörte zu unserer Familie, wie das Amen in die Kirche.
Nun ist aber hier nicht die Rede von einer lustigen, aber leicht übergriffigen Grosstante, die leider das Zeitliche gesegnet hat. Nein, ich rede von einer Pfütze. Genauer gesagt von jener Unebenheit in der Strasse im nahen Park, die exakt in der Mitte von unserem Zuhause und der Kita lag und sich bei Regen stets mit Wasser und im Winter sogar mit Eis füllte. Als die Kinder noch im Wagen sassen, schupste ich diesen jeweils durch ihr Wasser, bis sie vor Freude quietschten. Als sie grösser wurden, hüpften sie voller Inbrunst in sie hinein. Und wenn sie nicht mehr laufen mochten, setzte der Satz «Jetzt simer denn grad bi de Pfütze!» ihre kleinen Beinchen wie durch Zauberhand in Bewegung. Fakt ist – die Pfütze gehörte zu unserer Familie, wie das Amen in die Kirche.
Eine Pfütze, die die Welt bedeutet
Doch als ich kürzlich – Jahre entfernt von jener Kleinkinderzeit – durch den Park laufen wollte, kam ich nicht weit. Die Strasse war abgesperrt. Nein, schlimmer noch – es gab gar keine Strasse mehr. Weg. Sie wird saniert. Geht ja schliesslich nicht, so eine verlöcherte Strasse im properen Zürich. Doch dem Plan der Perfektion war leider auch dieses magische, brüchige Stück Teer zum Opfer gefallen, das mir und den Kindern so oft eine Welt bedeutete.
Nichts gegen Achtsamkeitskurse, doch mit kleinen Kindern geht es bedeutend günstiger.
Ich schluckte leer. Denn mit der Pfütze war auch ein Stück Geschichte unwiederbringlich verschwunden. Und der Weg zur Perfektion hat ein Stück gelebtes Leben zu einer Erinnerung gemacht. Ihr Verschwinden hat mir nicht nur die Vergänglichkeit deutlich vor Augen geführt, sondern mich auch an jenes grosse Geschenk der Neugierde, Langsamkeit und des Erfahren-Wollens kleiner Kinder erinnert, dessen Wert ich damals manchmal viel zu wenig zu schätzen wusste.
Lebenskunst – auf dem Weg zur Kita
Dabei bedeutet Kindheit doch die Aufforderung, neugierig zu sein, auch wenn die Eltern ab der hundertsten Wiederholung stöhnen. Durch Neugier und Ausprobieren erschliessen sich Kinder die Welt. Sie tauchen in sie ein, durchleben dabei die widersprüchlichsten Gefühle und betrachten alles nur eine Minute später wieder von einer ganz anderen Seite. Eine Lebenskunst, die viele Erwachsene kaum mehr zu leben verstehen und die sie sich dann in teuren Achtsamkeitskursen wieder anzueignen versuchen. Nichts gegen diese, doch mit kleinen Kindern geht es bedeutend kostengünstiger.
Wenn man für den Weg in die Kita nur zehn extra Minuten einrechnet, gibt es diesen Kurs nämlich gratis obendrauf. Indem wir in ihre unbändige Sehnsucht, das Leben zu erfahren, schlicht miteintauchen, statt zu brummeln, dass wir eh bereits wüssten, wie der Hase laufe. Denn über den Hasen lässt sich – mit Verlaub – ohnehin sagen, dass wir Erwachsenen uns viel zu oft in unseren vermeintlichen Wissensschubladen verschanzen, statt das Leben immer wieder neu zu entdecken. Und gesetzte Annahmen so frank und frei zu hinterfragen, wie Kinder das tun. Also jene Lebendigkeit in uns zu spüren, die wir Erwachsene manchmal so schmerzlich vermissen.
Doppelt langsam, doppelt bewusst
Denn wenn die Kleinkindzeit vorbei ist und wir uns ein paar Jahre – oder auch nur Wochen – schampar über unsere wiedererworbene Effizienz freuen, dank der wir nun noch mehr in unsere eh schon proppenvollen Tage packen können, erinnert uns vielleicht das Fehlen einer Pfütze an die Vergänglichkeit jener Tage. An die Lektionen, die uns unsere Kinder einst schenkten und die wir uns nun selber geben müssen: Dass oft gerade im Imperfekten das grösste Geschenk liegt.
Dass die einzige Konstante im Leben die Veränderung ist und der Weg zu mehr Achtsamkeit nicht zwingend über die Migrosklubschule führen muss, sondern darin besteht, alles doppelt langsam, doppelt bewusst zu machen. Und wenn wir das auch ohne Kinder an der Hand wieder zu leben verstehen, sind unsere Tage wieder so reich und lang wie jene endlosen Sommertage unserer Kindheit, in denen viele glänzende Steine an Möglichkeiten vor uns lagen.
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