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Was wir lesen
Natascha Wodin: «Sie kam aus Mariupol»

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In dieser atemlosen Suche einer Tochter nach ihrer Herkunft, ihrer Familie, nach sich selbst rekonstruiert Natascha Wodin, eine der grössten Erzählerinnen deutscher Sprache, die Geschichte ihrer ukrainischen Mutter. Doch je präziser und kompakter das Bild dieser Frau wird, der jedes Unheil zuteil wurde, welches das Schicksal nur auf Lager hat, desto mehr zerfällt alles andere, vor allem der Glaube an das Gute in der Welt.

«Sie kam aus Mariupol», der Titel des Buches, ist auch der Startpunkt der Suche, die einzige Gewissheit über das Leben der Mutter, die sich das Leben nahm, als Natascha Wodin noch ein Kind war. Als das Buch 2017 erschien, konnte Wodin nicht wissen, welche Bedeutung der Name dieses Ortes bald annehmen würde, denn Mariupol wurde zum Symbol der grausamen Eroberungen, mit denen die russische Armee über die Ukraine herfiel.

Doch Mariupol, erfahren wir, einst eine blühende Hafenstadt, in der Griechen und Italiener lebten, war auch schon zuvor ein Ort der Verwüstungen, aus dem in den 1940er-Jahren Wodins Mutter vor Stalin floh – nach Deutschland, in die Hände der Nazis. Sie war dort eine von drei Millionen sogenannten Ostarbeitern, die in Nazideutschland auf Bauernhöfen und in Fabriken für einen Hungerlohn wie Sklaven arbeiteten. Nach dem Ende des Kriegs wurden die meisten in Lagern interniert und massenweise nach Russland abgeschoben, wo sie als faschistische Kollaborateure von Stalin ermordet wurden.

Die unglaubliche Dichte von Unglück in diesem Buch entfaltet eine bedenkliche Wucht, eine nicht ganz unproblematische ästhetische Begeisterung für dieses literarische Denkmal der Erniedrigung und einer Flucht, die zielstrebig von einer Katastrophe in eine noch grössere führt.

Gesteigert wird der depressive Spannungsbogen noch durch den Sog, den die detektivische Suche erzeugt, mit der Wodin nach Spuren ihrer Familie sucht. Anfangs hat sie kaum mehr als ein Foto und ein paar trübe Erinnerungen, mit denen sie das Netz durchsucht, bis sie am Ende das Quellenmaterial für ihr fatales Familienepos zusammenhat, das gut hundert Jahre umspannt und in die ersten freudlosen Kinderjahre der Autorin mündet. Danach braucht man erst mal einen Schnaps.