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Was wir lesen
Endlich wieder Lese­ungeduld!

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Ich halte mich für jemanden, der gerne liest, und doch passiert es mir selten, dass ein Buch mich so packt, dass ich im Grunde den ganzen Tag nur darauf warte, bis ich weiterlesen kann. Bei Vigdis Hjorths «Die Wahrheiten meiner Mutter» verspüre ich nun aber seit zwei Wochen wieder diese spezifische Leseungeduld, und mir graut schon vor dem Moment, in dem ich das Buch zu Ende gelesen haben werde (ich habe mir noch fünfzig Seiten aufgespart).

Dabei schien mir die Handlung des Romans erst einmal fremd, wenn nicht sogar seltsam: Die sechzigjährige Malerin Johanna kehrt nach langer Zeit in den USA in ihre Heimat Norwegen zurück und versucht Kontakt aufzunehmen mit ihrer Mutter, mit der sie jahrelang nicht mehr gesprochen hat. Johanna hatte die Familie mit ihren Lebensentscheidungen und dann mit ihren Gemälden derart gekränkt – zu sehr schien die Mutter sich darin wiederzuerkennen –, dass es zum endgültigen Bruch zwischen ihnen gekommen war. Und auch jetzt verweigert die Mutter jegliches Gespräch, Johannas Anrufe, SMS, Briefe bleiben unbeantwortet.

Doch je mehr Zurückweisung Johanna erfährt, desto obsessiver befasst sie sich mit ihrer Mutter: Sie beginnt sie zu beobachten, lauert ihr auf, verfolgt sie, ihre Gedanken kreisen mehr und mehr darum, was die Mutter wohl den ganzen Tag tut, welche Rolle die Schwester Ruth in deren Leben spielt, sie vergräbt sich gedanklich in der Vergangenheit, lässt Familienszenen in ihrem Kopf Revue passieren, und einmal gräbt sie sich gar buchstäblich vor dem Haus der Mutter in den Garten ein.

Eine wahnsinnige Stalkerin, könnte man meinen, und doch gelingt es Vigdis Hjorth, die Gedanken ihrer Protagonistin so fesselnd darzulegen, dass man ihr folgen will. Fast atemlos liest man sich durch die Familienszenen, an die sich Johanna zurückerinnert und die stets von einer unheimlichen, untergründigen Spannung durchzogen sind. Irgendetwas war von Anfang an ungut in dieser Familie, das wird schnell klar, aber ausgesprochen wird es nie, und dieses Unausgesprochene ist das, was Johanna quält und ausser Kontrolle geraten lässt.

«In jeder Familie gibt es ein Tabu, und das Familienmitglied, das dieses anspricht, muss verstossen werden», sagte die norwegische Schriftstellerin vor kurzem bei einer Lesung in Zürich. Auch wenn es selten so drastisch wird wie bei ihrer Protagonistin, kennt wohl jede:r dieses Gefühl, in der Familie nicht alles sagen zu können. Es ist vielleicht auch dieses, das eigene Geheimnis, das einen beim Lesen antreibt.