Rebellion in Russland gestopptWas über den Wagner-Aufstand bekannt ist
Am Samstag waren Wagner-Kämpfer unterwegs Richtung Moskau. Am Abend hat Söldnerchef Prigoschin den Vormarsch gestoppt. Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Die seit Monaten schwelende Fehde zwischen Wagner-Söldner und der regulären russischen Armee hatte sich am Samstag zu einem offenen Aufstand entwickelt. Wagner-Söldner wandten sich unter ihrem Chef Jewgeni Prigoschin, einem ehemaligen Vertrauten des russischen Präsidenten Wladimir Putin, gegen die Armee. Der Söldnerführer hatte dem Verteidigungsministerium wiederholt massive Fehler im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine vorgeworfen, vor allem Verteidigungsminister Sergei Schoigu war Ziel seiner Kritik. Putin reagierte in einer Ansprache wütend, sprach von Meuterei und Verrat. (Lesen Sie hier unseren Kommentar.) Auf dem halben Weg nach Moskau stoppte Prigoschin dann am Abend nach eigenen Angaben den Vormarsch seiner Truppen auf die russische Hauptstadt.
Was war der Auslöser?
Der Aufstand begann am Abend des 23. Juni mit einer Reihe von Videobotschaften von Wagner-Chef Prigoschin. In den über den Nachrichtendienst Telegram veröffentlichten Videos beschuldigt er die russische Armee, eines der Wagner-Lager «bombardiert» und viele Söldner getötet zu haben. Prigoschin drohte mit Vergeltung.
Wie war die Situation in Rostow?
In den frühen Stunden des 24. Juni eskaliert die Situation dann und wurde zu einer bewaffneten Auseinandersetzung. Prigoschin marschierte aus dem besetzten Donbass mit einer bis auf 5000 geschätzten Anzahl von Söldnern in die russische Millionenstadt Rostow am Don ein. Den Wagner-Truppen wurde dabei offenbar kein Widerstand entgegengebracht. Bilder zeigen Söldner in friedlichen Gesprächen mit Einwohnern. In Rostow an der ukrainisch-russischen Grenze befindet sich das Hauptquartier der Armee für den Süden Russlands, von hier werden viele Operationen im Krieg gegen die Ukraine gesteuert.
In einem Gespräch mit dem stellvertretenden russischen Verteidigungsminister Junus-bek Jewkurow im Rostower Hauptquartier wiederholte Prigoschin dann seine Drohungen gegen das Verteidigungsministerium, vor allem gegen Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow, und sagte, er werde Richtung Moskau marschieren, wenn diese nicht zu ihm kämen.
In einem auf Telegram veröffentlichten Video erklärt er ausserdem, dass seine Söldner alle Militäreinrichtungen der Stadt unter Kontrolle gebracht hätten. Das russische Oberkommando in Rostow könne aber weiterarbeiten. Seine Aktion behindere nicht Russlands «militärische Spezialoperation» in der Ukraine, sagte Prigoschin. Bereits zuvor hatte er betont, seine Aktion sei kein Militärputsch, sondern ein «Marsch der Gerechtigkeit». Verifizierte Bilder zeigen Wagner-Söldner in den Strassen Rostows. Prigoschin bewegte sich auf einigen Videos offenbar völlig frei durch das Armee-Hauptquartier.
Wie war die Situation im Bezirk Woronesch?
Ebenfalls am Samstagmorgen fielen Wagner-Söldner an weiteren Stellen in Russland ein. Bilder vom Grenzübergang Bugaevka im Bezirk Woronesch konnten verifiziert werden. Zu sehen waren Soldaten der regulären russischen Armee, die dort offenbar keinen Widerstand leisteten, als die Wagner-Truppen nach Russland eindrangen, sondern ihre Waffen niederlegten.
Anschliessend bewegten sich Wagner-Kämpfer auf mehreren Wegen durch den Bezirk Woronesch nach Norden Richtung Moskau. Der britische Geheimdienst nannte es «die grösste Bedrohung für den russischen Staat in der jüngsten Zeit». Kurze Zeit später gab es dann Berichte, wonach Wagner-Kämpfer alle militärischen Einrichtungen der Stadt Woronesch im Norden des gleichnamigen Bezirks unter ihre Kontrolle gebracht haben. Woronesch liegt 500 Kilometer südlich von Moskau und gut 200 Kilometer vom Grenzübergang Bugaevka entfernt. Russische Behörden verhängten in der Region Woronesch den Notstand. An der Autobahn M 4 hatte Moskau mehrere Checkpoints errichtet. Lange Staus bildeten sich.
Auf mehreren Videos war eine Militärkolonne zu sehen, die sich auf der Autobahn M 4 im Bezirk Woronesch Richtung Moskau bewegte. Auf Videos waren Laster, schweres Gerät und auch Panzer zu sehen. In der Stadt Woronesch brannte ein Öllager, die Ursache ist unbekannt. Russische Kampfhubschrauber und Kampfjets waren über der Stadt zu sehen. Ein Reuters-Reporter hat beobachtet, wie russische Militärhubschrauber das Feuer auf einen Wagner-Konvoi in der Nähe von Woronesch eröffnet haben. Es gab auch Berichte über Schusswechsel an der Autobahn nördlich von Woronesch.
Was passierte in Moskau?
Auch in Moskau und Umgebung riefen die Behörden den Anti-Terror-Notstand aus. «Um mögliche Terroranschläge in der Stadt und dem Gebiet Moskau zu verhindern, ist ein Regime für Operationen zur Terrorbekämpfung eingeführt worden», teilte das nationale Anti-Terror-Komitee mit. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden verschärft, auf den Strassen waren Militärfahrzeuge zu sehen und viel Polizei. Der Anti-Terror-Notstand ermöglichte den russischen Behörden verstärkte Kontrollen und erleichterte Festnahmen.
Flugradar-Daten zeigen, dass von Moskauer Flughäfen am Samstagvormittag mehr Privatjets gestartet sind als sonst üblich, einige mit dem Ziel Türkei, einige Richtung Sankt Petersburg, bei anderen war das Ziel unklar. Das wurde von einigen Beobachtern als ein Zeichen von Nervosität der Moskauer Elite angesehen.
Überall im Land wurden Rekrutierungsbüros von Wagner durchsucht, Plakate und Fahnen der Söldner-Gruppe abgenommen.
Wie gross war die Gefahr für Putin?
Die Situation war den ganzen Tag über dynamisch und veränderte sich schnell. Ob die Wagner-Söldner überhaupt nach Moskau vordringen wollten, war unklar. Prigoschin hatte zunächst die russischen Soldaten aufgerufen, sich ihm anzuschliessen. Das Moskauer Verteidigungsministerium sagte im Gegenzug Wagner-Söldnern zu, sie nicht zu verfolgen, sollten sie ihre Waffen jetzt niederlegen.
Zu schweren Kampfhandlungen ist es wohl nicht gekommen, bis Prigoschin die Aktion abbrach. Dort, wo reguläre russische Soldaten auf Wagner-Kämpfer trafen, verhielten sich die Soldaten offenbar zumeist passiv.
Am Samstagabend kam es dann scheinbar zur Kehrtwende: Prigoschin befahl seinen Kräften nach eigenen Angaben, den Vormarsch auf Moskau zu stoppen. «Unsere Kolonnen drehen um und gehen in die entgegengesetzte Richtung in die Feldlager zurück», sagte er in einer auf Telegram veröffentlichten Sprachnachricht. Bislang sei «nicht ein Tropfen Blut unserer Kämpfer» vergossen worden, sagte der Söldnerführer weiter. Es gehe bei der Entscheidung nun darum, Blutvergiessen zu vermeiden.
Erst kurz zuvor hatte er erstmals auch öffentlich mit Putin gebrochen, dem er unlängst noch die Treue schwor und den er «meinen Oberbefehlshaber» nannte. Der 62-Jährige warf dem Kremlchef eine grobe Fehleinschätzung der Lage vor. Der Präsident irre sich schwer, wenn er Wagner-Leute, die bei den Kämpfen ihr Leben gäben, als «Verräter» bezeichne. «Wir wollen nicht, dass das Land weiter in Korruption, Betrug und Bürokratie lebt», sagt Prigoschin zu seinen Motiven. Allerdings hat er selbst seit Jahrzehnten gerade von diesem System profitiert und vom Kreml Milliardenaufträge erhalten.
Was haben Prigoschin und seine Söldner zu fürchten?
«Jetzt läuft eine Demontage von Wagner», schrieb die Politologin Tatjana Stanowaja am Samstag in ihrem Telegram-Kanal. «Das Ende von Prigoschin ist auch das Ende von Wagner.» In seiner Rede am Samstag hatte Putin verlangt, dass die Drahtzieher des Aufstandes ihrer «unausweichlichen Strafe» zugeführt werden sollten. Dafür habe er den Streitkräften den Befehl gegeben. Die Staatsagentur Ria Nowosti schrieb von einem Befehl zur «Neutralisierung», also zur Ausschaltung der aufständischen Wagner-Leute. Das war aber eine Interpretation. Putin selbst benutzte das Wort «Neutralisierung» nicht.
Prigoschin selbst hatte sich immer wieder beklagt, dass seine Kämpfer nicht genug Munition und Ausrüstung vom Verteidigungsministerium erhielten. Prigoschin hatte nach allem, was bekannt ist, im Machtapparat selbst keine einflussreichen Verbündeten. Auch die meisten seiner Initiativen von Strafanzeigen gegen Vertreter des Machtapparats blieben unberücksichtigt. Auch der von ihm sehr geschätzte Vize-Generalstabschef Sergei Surowikin wandte sich per Videobotschaft von ihm ab. Prigoschin genoss vor allem Ansehen in Kreisen von Ultranationalisten und Kriegspropagandisten.
Wie auch immer das alles für Prigoschin und seine Truppe enden wird: Putin hat einen seiner wichtigsten Trümpfe im Krieg verloren, weil Wagner grössere Gebiete erobert hatte.
Was bedeutet das für den Krieg in der Ukraine?
Auch um abschätzen zu können, was das alles für den Krieg in der Ukraine bedeutet, ist es noch viel zu früh. Klar ist: Russland versucht gerade, im Süden der Ukraine die Offensive der ukrainischen Armee abzuwehren, und braucht hierfür grosse Ressourcen. Die Stadt Rostow ist das zentrale russische Logistik-Drehkreuz für die Donezk-Front, Woronesch hat die gleiche Funktion für die Charkiw-Front.
Aus der Ukraine gibt es auch Reaktionen. Präsident Wolodimir Selenski sieht den Aufstand der Söldnergruppe als Zeichen der Schwäche Russlands. «Russlands Schwäche ist offensichtlich. Schwäche in vollem Umfang», schrieb Selenski auf der Social-Media-Plattform Telegram. «Und je länger Russland seine Truppen und Söldner in unserem Land hält, desto mehr Chaos, Schmerz und Probleme wird es später selbst haben.»
Auf einigen offiziellen Kanälen wurde zunächst Schadenfreude zum Ausdruck gebracht. So schrieb das ukrainische Verteidigungsministerium auf Twitter: «Wir schauen uns das mal an.» Und ein führender Berater des ukrainischen Präsidenten nannte den Vorstoss Prigoschins eine «Antiterror-Operation».
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