Kommentar zum Einsatz von StreumunitionWas streut, wuchert auch
Die Tatsache, dass Russland mit seinem Raketen- und Drohnenterror selbst alle Massstäbe gesprengt hat, darf nicht zum neuen Massstab werden.
Im Krieg ist wenig eindeutig, auch nicht die Entscheidung für oder gegen den Einsatz von Streumunition. Streumunition, das sind Fliegerbomben oder Artilleriegeschosse, die viele kleine Explosionskörper in sich tragen, eine Art Submunition, die sich nach dem Abschuss über das Schlachtfeld verteilt und mit ihrem Streueffekt eine deutlich höhere Wirkung erzielt.
Diese Munition ist völkerrechtlich geächtet, weil sie durch die Breitenwirkung viel mehr Zivilisten in Gefahr bringt – in der Regel oft lange nach dem Krieg, weil nicht explodierte Teile der Munition im Kontakt etwa mit Kindern oder in der Landwirtschaft töten.
Die Kriegssituation in der Ukraine macht das Dilemma vollkommen. Der Ukraine geht die Munition aus, die schwer befestigten Verteidigungslinien der Russen fallen nicht wie erwartet, Wladimir Putins Kalkül scheint aufzugehen: Russland wird in diesem Abnutzungskrieg länger durchhalten, die Ukraine erschöpfen – und siegen.
«Krieg ist stets der Bruch von Recht und Ordnung.»
Die Ukraine hat in diesem Krieg Streumunition aus eigenen Beständen eingesetzt, Russland ebenfalls, und zwar in grossen Mengen. Nun könnten die Vereinigten Staaten den Munitionsnotstand der Ukraine durch die Lieferung von Streumunition deutlich lindern. Der militärische Vorteil der Munition: Die Streukraft würde der Ukraine angesichts von Terrain und Abwehrtaktik der russischen Einheiten einen Vorteil verschaffen. Die USA reklamieren auch eine niedrige Blindgängerquote für ihre Munition von 2,6 Prozent – die eigentliche Kritik an diesen Geschosstypen soll also gelindert werden.
Aber, und nun kommt der entscheidende Einwand: Krieg ist stets der Bruch von Recht und Ordnung – Recht, das geschaffen wurde, um Kriege zu verhindern oder ihren Charakter zu zähmen. Die völkerrechtliche Ächtung von Streumunition gehört zu diesen Zähmungsversuchen, und selbst wenn die USA, die Ukraine und auch Russland der Konvention nicht beigetreten sind, hat der US-Kongress der Regierung Grenzen beim Einsatz auferlegt. Verschossen werden dürfen nur Granaten, deren Blindgängerquote unter einem Prozent liegt.
«Was ist, wenn die Streumunition den Krieg wenden kann?»
Würden die Vereinigten Staaten Streumunition liefern, fiele jedes politische Argument in sich zusammen, mit dem andere Staaten zum Verzicht auf diese Munition und zur Einhaltung von Regeln im Krieg angehalten werden sollen. Die Tatsache, dass Russland mit seinem Raketen- und Drohnenterror selbst alle Massstäbe gesprengt hat, darf nicht zum neuen Massstab werden.
Bleibt das letzte, das grösste Dilemma: Was ist, wenn die Streumunition den Krieg wenden kann, die Munitionsknappheit der Ukraine und damit den unerträglichen Schwebezustand im Gefecht beendet? Oder zugespitzt: Gibt es nicht sogar eine moralische Verpflichtung zum Einsatz auch dieser Munition, wenn dadurch der Krieg schneller einem gerechten Ende zugeführt würde?
Die ebenso zugespitzte Antwort: Die eindeutige Kausalkette – Streumunition verschafft der Ukraine die militärische Überlegenheit – ist nicht belegt, darüber kann nur spekuliert werden. Umgekehrt wird der politische Preis für die Vereinigten Staaten hoch ausfallen, sowohl im Land selbst und gegenüber dem Kongress wie auch im Bündnis und für die globale Autorität. Solange kein zweiter Jewgeni Prigoschin in Sicht ist und Russland nicht von innen kollabiert, braucht die Ukraine einen schnellen militärischen Erfolg. Den aber wird die Streumunition nicht bescheren.
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