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Analyse zu optimistischen Prognosen
Was gegen ein schnelles Pandemie-Ende spricht

Wir alle sind müde: Wie lange die Pandemie noch andauert, ist ungewiss.
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Im Sommer 2020 war die Mehrheit der Schweizer Epidemiologen in einer Umfrage dieser Redaktion der Überzeugung, falls es nochmals eine zweite Corona-Welle geben werde, würde diese deutlich schwächer ausfallen als die erste. Tatsächlich starben dann im darauffolgenden November und Dezember mit 5500 Personen so viele an Covid, wie sich das vorher niemand auszumalen wagte.

Die meisten Experten und die führenden Personen bei den Impfstoffherstellern Moderna und Pfizer zeigten sich danach davon überzeugt, dass spätestens im Sommer mit den Vakzinen die Pandemie und die Massnahmen beendet werden können. Wieder kam es anders: Die hochansteckende und gefährliche Delta-Variante machte die Hoffnungen zunichte.

Die Vorhersagen der Politik waren nicht präziser. Legendär war Bundesrat Alain Bersets Slogan «Wir können Corona» vom Mai 2020. Seine Prognose vom März 2021 «Wenn im Juli alle Impfwilligen geimpft sind, braucht es keine Massnahmen mehr» traf genauso wenig ein. Im August 2021 verkündete er: «Wenn es gut läuft, sind in wenigen Wochen weitere Lockerungen möglich.» Es lief dann nicht gut. Im vergangenen November sagte Berset dann: «Ich glaube nicht, dass wir 2-G nötig haben.» Die Kehrtwende folgte nur ein paar Wochen später. 

Nun, nach zwei Jahren Pandemie und einem ganzen Meer von Fehlprognosen lieferte der Bundesrat kürzlich die Schlagzeile: Berset weckt Hoffnung auf Ende der Pandemie.

Wer soll das noch ernst nehmen? Wenn man sich so umhört: erstaunlich viele. Auch Virologinnen und Virologen, die bisher eher düstere und meist realistische Einschätzungen abgaben, stimmen in den Chor der Optimisten ein. Zuletzt sah auch der deutsche Chefvirologe Christian Drosten in der Ausbreitung der Omikron-Variante eine «Chance» zur Überwindung der Pandemie: Die «abgeschwächte» Krankheit könne dazu beitragen, die Pandemie Ende 2022 für beendet erklären zu können, sagte er dem «Tagesspiegel».

Gut möglich, dass wir nun tatsächlich am Anfang vom Ende der Pandemie angekommen sind. Wenn man aber rückblickend die Entwicklung der Seuche mit ihren zahlreichen Wendungen analysiert, sind andere, negative Szenarien genauso wahrscheinlich.

Grund 1: Nächste Variante könnte wieder gefährlicher sein

Neue Mutationen werden entstehen, das ist garantiert. Hat uns die Wissenschaft monatelang davor gewarnt, dass mehr Infektionen auch mehr Möglichkeiten für das Virus bedeuten, sich zu verändern, so findet dieser Aspekt in der jetzigen Diskussion nur noch wenig Beachtung. Und das, obwohl Sars-CoV-2 gegenwärtig eine beispiellose Verbreitung in Mensch und Tier erfährt und sich täglich millionenfach replizieren und möglicherweise rekombinieren kann.

Und neue Mutationen bedeuten keineswegs, dass sie immer milder werden, auch wenn sich das Narrativ hartnäckig hält, so verbreitete auch Bundespräsident Ignazio Cassis kürzlich diese Deutung, für die es keine Evidenz gibt. Er sagte dem «SonntagsBlick»: «Epidemien verschwinden am Ende meist mit hochinfektiösen Viren, die aber zu milderen Erkrankungen führen. Biologisch gesehen ist es so, dass die Viren ja nicht die Menschen töten wollen, von denen sie sich ernähren.»

Diese Begründung ist unlogisch. Denn Corona-Infizierte geben das Virus oft noch vor Symptombeginn weiter, ob der Wirt nachher schwer krank wird oder stirbt, ist Sars-Cov-2 egal, es bringt ihm weder einen evolutionären Vor- noch Nachteil.

Alle Corona-Varianten von Alpha über Delta bis hin zu Omikron tauchten völlig unabhängig voneinander auf. Sie gehen genetisch direkt auf das Wildtypvirus zu, sind also keine Weiterentwicklungen von dominant gewordenen Mutanten. Wie und wo sie entstanden sind, ist ungeklärt. Bisher waren alle neuen Typen, mit der Ausnahme von Omikron, deutlich krank machender als das ursprünglich in Wuhan entdeckte Virus. Die Evolution zeigte vor Omikron nur in eine Richtung: gefährlicher. Das Hospitalisierungsrisiko verdoppelte sich mit Delta gegenüber Alpha, und Alpha war schon pathogener als der Wildtyp.

Es gibt keine Gewissheit, dass die nächste Mutation nicht auch wieder aus dem Nichts erscheint, also nicht mit Omikron in Verbindung steht, und wiederum mehr Schäden in den Lungen verursachen und die nun erworbene Omikron-Immunität in der Bevölkerung umgehen wird.

Mikrobiologe Ravi Gupta und sein Team von der Cambridge University waren weltweit mit die Ersten, die zeigten, dass sich Omikron in den Lungen weniger gut vermehren kann und eher in den oberen Atemwegen zirkuliert. «Über das Narrativ, die neue Variante sei mild, war ich dennoch sehr besorgt, Omikron verursacht immer noch gefährliche Infektionen», sagte er gegenüber National Public Radio (NPR). Und er warnt: «Die nächste Variante – und es wird mit Sicherheit eine geben – wird sich möglicherweise nicht aus Omikron entwickeln und nicht unbedingt dessen Merkmale aufweisen.»

Die Pocken, welche Tausende Jahre zirkulierten und für den Menschen so tödlich waren wie kaum eine andere Krankheit, wurden nie milder. Allein im 20. Jahrhundert starben etwa 300 Millionen Menschen an der Krankheit. Das Virus konnte erst mit der Impfung 1980, als erste Infektionskrankheit überhaupt, ausgerottet werden. Auch Mumps, Masern, Gelbfieber und Polio sowie die meisten anderen Krankheiten schwächten sich durch eine intrinsische Veränderung der krankheitauslösenden Viren nie ab. Alle wurden sie endemisch.

Grund 2: Es drohen mehrere Wellen pro Jahr

Durch die rasante Verbreitung der Omikron-Variante könnte vielen Experten zufolge auch das Coronavirus endemisch werden. Was so viel heisst wie ein stabiler, kontrollierbarer Zustand im Umgang mit dem Erreger, der unseren Alltag nur noch wenig beinflusst.

Michael Ryan, Chef der WHO-Notfallprogramme, warnt allerdings davor, die Gesundheitsrisiken durch Covid-19 zu unterschätzen. «Die Leute stellen Pandemie und Endemie einander gegenüber, aber endemische Malaria tötet Hunderttausende Menschen, HIV ist endemisch, Gewalt in unseren Städten endemisch», sagte er bei einer Onlineveranstaltung des Weltwirtschaftsforums diese Woche.

Endemisch heisst nicht harmlos. Endemisch heisst nur, dass das Virus für immer da ist. Und es bedeutet auch nicht, dass wir im Frühling oder Sommer zwingend von Covid verschont werden.

Denn Sars-2 hat Eigenschaften, welche in dieser Kombination andere Viren so nicht vereinen: Das Virus gehört spätestens seit Delta zu den ansteckendsten auf der Welt, nur Masern und allenfalls Windpocken werden noch etwas leichter übertragen. Und gleichzeitig schützt die Immunität nach Infektion oder Impfung nur ein paar Monate lang vor einer erneuten Ansteckung. Bei Masern und Windpocken ist hingegen nach erstmaligem Kontakt ein lebenslanger Schutz zu erwarten.

Es ist daher zu befürchten, dass die Kombination aus neuen Varianten, rasant schwindendem Impfschutz und aufgehobenen Massnahmen weiterhin zu mehreren unregelmässigen Infektionswellen im Jahr führen wird. Das könnte das Gesundheitswesen dauerhaft stark belasten und immer wieder zu heftigen Störungen im öffentlichen Leben führen. Die viel beschworene Herdenimmunität wird es wohl nie geben.

Theoretisch könnte diesem Szenario mit regelmässigen Booster-Kampagnen für über 90% der Bevölkerung entgegengewirkt werden. Es würde zu einer jeweils vorübergehenden, aber synchronen Immunität in der Bevölkerung kommen. Diese Strategie ist aber weder politisch noch gesellschaftlich mehrheitsfähig. Sogar Drosten winkt ab. Man könne «nicht auf Dauer alle paar Monate über eine Booster-Impfung den Immunschutz der ganzen Bevölkerung erhalten», sagt der Virologe: «Das muss das Virus machen.» 

Fragt sich nur, wo die Vorteile einer regelmässigen Infektion mit einem unberechenbaren Virus gegenüber zwei sicheren und wirksamen Dosen mRNA-Impfstoff pro Jahr liegen.

Grund 3: Long Covid – die Epidemie nach der Pandemie?

Die Impfstoffe bieten auch bei Omikron – insbesondere mit dem Booster – einen ausserordentlich guten und lang anhaltenden Schutz vor einer schweren Covid-Erkrankung. Eine Ansteckung verhindern sie aber nur noch mässig. Das Problem: Auch nach einem milden Verlauf kann Long Covid entstehen. Die Schweiz zählt zurzeit geschätzt mit Dunkelziffer täglich 50’000 bis 100’000 milde Verläufe.

Für die Politik spielt aber bei der Beurteilung der Pandemie schon länger ausschliesslich die Belastung der Spitäler eine Rolle. Während in der Schweiz die Entscheidungsträger über Long Covid kaum reden, behandeln andere Länder das Problem transparenter. Frankreich hat vergangene Woche per Gesetz ein zentrales Erfassungssystem für Long-Covid-Fälle geschaffen, damit die Hunderttausenden Betroffenen in den Daten endlich sichtbar werden. Und die finnische Ministerin für soziale Angelegenheiten, Krista Kiuru, warnte kürzlich eindringlich: «Es besteht die Gefahr, dass in Finnland Long-Covid-Leidende bald die grösste oder eine der grössten Gruppen an chronisch Kranken ausmachen werden.»

Long Covid könnte sich als grosses gesundheitspolitisches Problem nach der Pandemie entpuppen und eine eigene Epidemie darstellen. Ob Omikron mehr oder weniger Langzeitfolgen verursacht, wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Falls aber auch mit künftigen Varianten 10 bis 30% der lediglich mild Erkrankten monatelang nicht mehr gesund werden, muss sich die Gesellschaft fragen, ob regelmässige Reinfektionen sozial und wirtschaftlich verkraftbar sind.

Endemie oder Endenie?

Mehr als eine Hoffnung ist es nicht, dass wir die Pandemie Ende 2022 für beendet erklären können. Käme es tatsächlich so, wäre es das erste Mal in dieser Krise, dass eine konsensuale Einschätzung von Politik und vielen Wissenschaftlern Realität würde. Vielleicht heisst aber Endemie dann auch nur: Wir haben genug von der Pandemie, wir nehmen die anhaltende Belastung des Gesundheitssystems, die zusätzlichen Toten und chronisch Kranken in Kauf.