Unterschätztes GesundheitsrisikoWas Einsamkeit mit uns macht – und wie wir sie überwinden
Wer das Gefühl hat, nirgends dazuzugehören, erlebt gerade jetzt eine schwierige Zeit. Eine gute Möglichkeit für Begegnungen bieten die Spaziergruppen «Zämegolaufe».
Im Bus-Häuschen bei der Kaserne Bülach ZH hat sich an diesem trüben Nachmittag ein kleiner Haufen Menschen versammelt. Gut ausgerüstet mit Schirmen und Regenmänteln, machen sie sich kurz danach auf den Weg Richtung Wald. Ganz gleich, ob es regnet, schneit oder die Sonne scheint: Die Gruppe «Zämegolaufe» dreht jede Woche ein- bis zweimal eine Runde in der näheren Umgebung. «Schliesslich muss man ja auch bei schlechtem Wetter mal zum Haus raus», sagt Bruno Kocherhans. Der 68-Jährige hat im Frühling seine Frau verloren und wohnt seither allein. Anfang Woche ist er häufig als Rotkreuz-Fahrer unterwegs, und auch im Samariterverein engagiert sich der Witwer. Doch Mitte Woche sei meist wenig los, erzählt er. Der einstündige gemeinsame Spaziergang kommt dem ehemaligen SBB-Angestellten da gerade recht: «So kann ich der Einsamkeit ein wenig entfliehen.»
In über 20 Schweizer Gemeinden gibt es mittlerweile «Zämegolaufe»-Gruppen für Menschen ab 60. Das Angebot ist aus einem Präventionsprojekt der Universität Zürich hervorgegangen – mit dem Ziel, älteren Menschen regelmässige körperliche Bewegung und Kontaktmöglichkeiten zu verschaffen.
Jeder dritte Mensch hierzulande fühlt sich einsam
Gemäss Umfragen leidet mehr als ein Drittel der Schweizer Bevölkerung manchmal oder regelmässig unter Einsamkeit. Eine besonders heikle Zeit sind die Festtage und allgemein die dunklen Tage im Winter. Dann verkriechen sich viele in ihre Wohnungen, und es gibt weniger Möglichkeiten für spontane Begegnungen. Und wenn andere im Familienkreis feiern, empfindet man das Alleinsein meist bedrückender.
Dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, kann sogar krank machen. Studien zeigen, dass einsame Menschen öfter an Schlafstörungen, depressiven Symptomen und Rückenschmerzen leiden als andere. Sogar Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall und Demenz treten häufiger auf. «Einsamkeit bedeutet Stress», betont Sozialwissenschaftlerin Hilde Schäffler. «Sie kostet gleich viele Lebensjahre wie Rauchen oder Übergewicht.»
Wie gross das Problem ist, hat man auch in Grossbritannien erkannt. Deshalb hat die dortige Regierung 2018 ein Ministerium für Einsamkeit geschaffen. Die zuständige Ministerin koordiniert Aktionen, um Menschen aus der Isolation zu holen und die Öffentlichkeit für ihre Not zu sensibilisieren.
Verbreitet ist Einsamkeit auch bei älteren Menschen. «Das Risiko steigt, wenn die Kinder ausziehen, man aus dem Berufsleben ausscheidet, der Partner oder die Partnerin wegstirbt und auch der Bekanntenkreis immer kleiner wird», erklärt Schäffler. Speziell betroffen seien Menschen mit eingeschränkter Mobilität, die am gesellschaftlichen Leben weniger teilnehmen können. Aber auch viele junge Menschen fühlen sich einsam und leiden mindestens so stark darunter wie ältere. Denn unter dieser Phase stellt man sich automatisch Lebensfreude, ein aktives Sozialleben und wilde Partys vor. Wer da nicht mithalten kann, fühlt sich schnell ausgeschlossen.
Wenn Arbeitskontakte wegfallen
Die Bülacher Gruppe ist mittlerweile bei einer Waldhütte angekommen und gönnt sich eine kurze Pause. «Wenn es regnet, ist die Luft besonders frisch. Ich geniesse das», sagt Alois Fischer. Der 88-Jährige ist noch gut zu Fuss und bestens vertraut mit der Umgebung. Er leitet das Angebot zusammen mit drei weiteren Kolleginnen und Kollegen.
Dazu gehört auch die 63-jährige Amy Gehring, die noch als kaufmännische Angestellte berufstätig ist. «Ich bin gerne draussen und finde es super, dass ich durch dieses Engagement viele verschiedene Leute kennen lerne», sagt sie. Deshalb habe sie sich zur Verfügung gestellt, die Gruppe aufzubauen. Vor der Migros verteilte sie Flugblätter und heftete sie an Tafeln an den Bushaltestellen.
Auch Brigitte Utzinger ist über die Flyer-Aktion auf das neue Angebot gestossen. «Ich gehe gerne laufen, aber nicht allein», sagt die 72-Jährige, die seit einigen Jahren geschieden ist. Sie habe zwar einen grossen Bekanntenkreis, doch die meisten würden weiter weg wohnen. Bis vor vier Jahren arbeitete Utzinger als Pflegehelferin in einem Spital und hatte dadurch automatisch viel Kontakt zu Menschen. Diese spontanen Begegnungen fehlen ihr nun manchmal. Sie nimmt deshalb regelmässig an den gemeinsamen Spaziergängen teil.
Nicht nur Sonderlinge und «Gschpässige» betroffen
Einsamkeit könne jede und jeden treffen, sagt Hilde Schäffler, die im Auftrag der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz einen Leitfaden zum Thema für Gemeinden erarbeitet hat. «Es sind keineswegs nur Sonderlinge und <Gschpässige> betroffen.» Zum Beispiel könnten Schicksalsschläge wie Todesfälle in der Familie, Krankheiten und Unfälle dazu führen, dass sich Bekannte zurückzögen, weil sie überfordert seien und sie die Situation belaste. Besonders schwierig sei die Situation bei psychischen Krankheiten wie etwa Depressionen. «Viele psychisch Kranke vereinsamen zusehends, was ihren Zustand noch verschlimmert.»
Auch wer neu in die Schweiz kommt, hat es meist nicht einfach, Anschluss zu finden. Dies hat Schäffler, eine gebürtige Österreicherin, selbst erfahren, als sie vor über zehn Jahren nach Bern zog: «Ich hatte schon öfters den Wohnort gewechselt und auch in England und Australien gelebt. Doch nirgends ist es mir so schwergefallen wie hier, neue Freundschaften aufzubauen.»
Einsam und allein sind nicht dasselbe
Einsamkeit ist ein schambesetztes Thema, wird sie doch mit gesellschaftlichem Scheitern in Verbindung gebracht. Wer keine Freunde hat, fühlt sich oft minderwertig. Denn wir Menschen sind von Natur aus soziale Wesen. Früher hätte man gar nicht überleben können ohne eine Gruppe. Die meisten brauchen zwar auch Zeiten für sich und geniessen die Ruhe. Dies fällt jedoch leichter, wenn man gut eingebunden ist in eine Partnerschaft oder einen Freundeskreis. Das subjektive Leiden entsteht, wenn man sich ausgegrenzt fühlt und einen Mangel an Verbundenheit empfindet.
In Bülach regnet es an diesem Nachmittag noch immer in Strömen. Allmählich können Schuhe und Jacken der Nässe nicht mehr standhalten. Die meisten Teilnehmenden der Gruppe «Zämegolaufe» sind froh, dass sie wieder ins Trockene können. Im Restaurant Frieden ist bereits ein Tisch reserviert: Bei einem warmen Tee oder einem Glas Wein lassen sie den gemeinsamen Nachmittag ausklingen.
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