Pandemie und GesellschaftDie aufgeheizte Stimmung macht den Menschen Angst
Eine Umfrage belegt erstmals den Corona-Graben – und liefert überraschende Erkenntnisse: Die Jungen wollen freiere Liebe und erwarten eine Revolution der Arbeitswelt.
Für die einen ist er der sichere Fels in der Brandung, für andere ein Diktator und Manipulator: Gesundheitsminister Alain Berset (SP) wünschen die rabiatesten unter den Corona-Skeptikern gar den Tod. Politikerinnen und Politiker, die für die Impfung werben, werden beschimpft, angepöbelt und sogar tätlich angegriffen. Die Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli (SVP) wurde mit Apfelschorle überschüttet, Hassmails gehören inzwischen genauso zum Alltag von Magistraten wie Bodygards bei öffentlichen Auftritten.
Aber auch Corona-Skeptiker bekommen ihr Fett weg, werden vom eigenen Freundeskreis geschnitten oder in den sozialen Medien lächerlich gemacht. Mit anderen Worten: Es brodelt in der Schweiz.
Die Verhärtung der Fronten ist nicht nur eine singuläre Beobachtung, sondern eine ganz reale Angst. Der Generationenbarometer 2021 dokumentiert diesen Befund jetzt erstmals schwarz auf weiss: «Der Corona-Graben ist für die Schweizer Bevölkerung der wichtigste gesellschaftlich-politische Gegensatz der Gegenwart.» Auf die Frage der heute publizierten Datenerhebung bei 4162 Personen, wo die Schweiz am meisten auseinanderdriftet, nannten 77 Prozent das Spannungsfeld zwischen Massnahmenbefürwortenden und Massnahmenskeptikern – im Vorjahr waren es noch 38 Prozent.
Die vier wichtigsten Erkenntnisse der Studie, die Sotomo im Auftrag des Berner Generationenhauses erstellt hat:
Corona ist kein grosses Generationenproblem
Gefährdet die Corona-Pandemie den Zusammenhalt der Gesellschaft? Beim ersten Generationenbarometer hatten noch 22 Prozent der Befragten die Hoffnung, die Krise könnte sich sogar positiv auf die Solidarität auswirken. Diese Hoffnung ist drastisch geschwunden (10 Prozent), insbesondere die Jungen sind in dieser Frage pessimistisch.
Doch die Gesamtbeurteilung fällt trotzdem erstaunlich optimistisch aus: Nur gerade jede fünfte Person glaubt, dass die Gesellschaft zwischen Jung und Alt auseinanderzudriften droht. Das war vor einem Jahr noch ganz anders: Man zeigte mit dem Finger auf die Alten, sie wurden zu den Schuldigen für all die Einschränkungen gemacht. Neben den Hochbetagten werden neu aber auch Teenager und junge Erwachsene als besonders verletzlich und benachteiligte Gruppen der Corona-Krise wahrgenommen.
Für die Verfasser des Barometers ist das eine gute Nachricht: «In der Schweiz wird kein genereller Konflikt zwischen den Generationen wahrgenommen.» Und die Pandemie wird nicht nur als Last wahrgenommen, insbesondere von der mittleren und älteren Generation: Insgesamt gewichten 42 Prozent die zusätzliche Lebenserfahrung aufgrund der Pandemie höher als die Erfahrungen, die wegen dieses Ausnahmezustandes verpasst worden sind.
Erwartungen an die Zukunft sind überraschend
Das Generationenversprechen, wonach jede neue Generation bessere Lebensbedingungen vorfindet als die vorangegangene, scheint erloschen, so das nüchterne Fazit des Berichts. Denn die Befragten erwarten in den nächsten 30 Jahren grosse Umbrüche – von der Umwelt über die Digitalisierung bis zur Arbeitswelt.
Danach befragt, wie die Welt im Jahr 2051 aussehen wird, gibt es teilweise erstaunliche Antworten: So denkt fast die Hälfte, dass es in den nächsten 30 Jahren zu einer wahren Revolution der Arbeitswelt kommen wird, die uns weitgehend in die Freizeit entlässt.
Interessant ist die unterschiedliche Beurteilung der Zukunftsaussichten bei den Geschlechtern: So halten es Frauen für wesentlich wahrscheinlicher als Männer, dass 2051 aufgrund des Klimawandels ein Fünftel der Erde unbewohnbar sein wird (bei den Jungen ist dieser Anteil noch einmal grösser). Anders als bei den Männern geht eine Mehrheit der Frauen davon aus, dass bis in 30 Jahren der Fleischverzehr ebenso verpönt sein wird wie heute das Rauchen.
In Sachen Liebe wird es bunter
Denken Sie, dass offene Beziehungen und Alternativen zu Zweierbeziehungen bei den jüngeren Generationen normal und akzeptiert sein werden? Ja natürlich, sagen die Jungen (61 Prozent) und beurteilen das auch als positive Entwicklung. Selbst bei den über 65-Jährigen ist ein Umdenken im Gang. Laut den Studienverfassern deutet dies auf einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel hin.
Unterschiedliche Chancen der Zukunftsprojekte
Leise Hoffnung gibt es nach dem kürzlichen Nein zur Einführung des Stimmrechtsalters 16 im Kanton Uri. Zwar spricht sich laut dem Barometer weiterhin eine klare Mehrheit gegen die Senkung des Simmrechtsalters aus. Aber die Zustimmung ist im Vergleich zum Vorjahr von 29 auf 36 Prozent angestiegen. In verschiedenen Kantonen wie etwa Bern, Zürich oder Luzern laufen Bestrebungen, das Stimmrechtsalter 16 einzuführen. Und in den eidgenössischen Räten ist ein entsprechender Vorstoss auf gutem Weg.
Anhaltend gross ist die Zustimmung für einen obligatorischen Gemeinschaftsdienst (71 Prozent). Das dürfte den politischen Bestrebungen für einen «Bürgerdienst für alle» weiteren Auftrieb bescheren. Einerseits prüft Verteidigungsministern Viola Amherd (Die Mitte), ob und in welcher Form die Dienstpflicht auch auf Frauen ausgeweitet werden könnte. Andererseits steht der Verein Service Citoyen in den Startlöchern, um eine Volksinitiative zu lancieren. Der Initiativtext steht, jetzt versucht der Verein, genügend Unterschriftenversprechen zu bekommen, um das Volksbegehren offiziell bei der Bundeskanzlei zur Vorprüfung einzureichen.
Ebenfalls auf grosses Wohlwohlen stossen die Einführung einer Kommission, welche die Interessen künftiger Generationen in den politischen Prozess einbringt (58 Prozent), und die Einführung eines Rentenmodells von einem fixen Rentenalter hin zu einer Lebensarbeitszeit (63 Prozent).
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