Fiasko am Fuss der SchicksalsburgDann merkt Reusser: «Ich habe keinen Bock darauf»
Die Bernerin steigt im WM-Zeitfahren früh vom Rad, weil ihr in diesem Moment alles zu viel wird. Die Aufgabe ist das Resultat kräfteraubender Wochen.
Als absolute Favoritin geht Marlen Reusser in Glasgow an den Start der Weltmeisterschaft im Zeitfahren. Sie, die diese Disziplin dominiert, lässt nach rund 25 Fahrminuten Zuschauerinnen, Kommentatoren und Journalistinnen ungläubig zurück. Als sie den Kopf schüttelt, sich aufrichtet, bremst, vom Rad steigt – und sich ins Gras hockt. 20 Kilometer vom Ziel beim Schloss von Stirling entfernt, das bezeichnenderweise den Namen Schicksalsburg trägt. Es ist kurz nach 16 Uhr Ortszeit.
In diesem Augenblick herrscht dort oben vor den Grossbildschirmen konsterniertes Schweigen. Dort oben, wo jene Fahrerin auf dem Hot Seat thront, die früh schon die Bestzeit ins Ziel gefahren hat: die US-Amerikanerin Chloe Dygert. Wohl mit gemischten Gefühlen beobachtet sie die Szene am TV. Sieht, wie sich der Schweizer Nationaltrainer Edi Telser zu seinem Schützling ins Gras kniet – und die Athletin, die eben ihre Träume begraben hat, in die Arme schliesst.

Die Experten rätseln. Hat der Sturz im Teamzeitfahren am Dienstag doch noch seinen Tribut gefordert? War der Druck zu gross? War mental die Luft draussen, nach ihrer triumphalen Tour de Suisse, ihrem persönlichen Saisonhöhepunkt? Verlor sie die Hoffnung, als sie bei der 12-Kilometer-Marke bereits 32 Sekunden Rückstand auf Dygert verbuchte?
Da trifft um 16.10 Uhr eine erste Whatsapp-Mitteilung von Reussers Sprecherin Janine Geigele bei den Journalisten ein: «Marlen ist leider out im WM-Zeitfahren … Infos folgen.» Dann, um 16.27 Uhr, meldet sich der Mediensprecher des Schweizerischen Radsportverbands Swiss Cycling: «Marlen geht es gut. Wir liefern euch so bald als möglich weitere Informationen.»
Dieses Leben zehrt an ihr
Inzwischen schlüpft Dygert ins Weltmeistertrikot, dem die Schweizerin nachjagte. Diese hatte sich 2022 im australischen Wollongong trotz einer eindrücklichen Fahrt mit Bronze begnügen müssen. 2021 und 2020 war es jeweils Silber gewesen. Die neue Weltmeisterin zeigt an der Sieger-Pressekonferenz Mitgefühl für ihre Konkurrentin. «Sie hat im Teamwettbewerb einen bösen Sturz erlitten. Ich weiss, welche Auswirkungen das haben kann, und hoffe einfach nur, dass es Marlen gut geht», sagt sie.

Marlen Reusser setzt den Mutmassungen schliesslich kurz nach 19 Uhr Ortszeit ein Ende. Es war kein technisches Problem. «In diesem Moment wollte ich aufgeben», sagt sie. Um gleich nachzuschieben: «Über Reue kann man reden.» Und dann holt die 31-Jährige aus: «Es ist meine siebte Weltmeisterschaft, und seit ich Rad fahre, tue ich es mit viel Leidenschaft.» Doch: «Seit längerem habe ich gemerkt, dass das alles an mir zehrt.»
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Ihre bisherige Saison war derart erfolgreich gewesen, sie habe so viel feiern können. «Dann, nach der Tour de Suisse, kam das Loch, es fehlte der Moment, in dem ich aufatmen und mich darüber freuen konnte.» Nahtlos sei es an die Tour de France und dann an die Weltmeisterschaften gegangen. Und eigentlich hätte sie Raum gebraucht, um etwas anderes zu tun, «um mich zu freuen – und wieder Hunger zu bekommen».
Nun braucht sie Abstand
Reusser redet von einer «Endlosschleife», davon, dass sie früher hätte reagieren müssen. «Ich tat es nicht, weil so viel daran hängt.» Die Sponsoren, der Verband, ihr Team. «Aber auch, weil ich derart in Form bin.» So habe sie sich zusammengerissen – auch für diese WM.
Während des Zeitfahrens, als sie hätte aufdrehen müssen, um nach dem Titel zu greifen, habe sie gemerkt: «Eigentlich will ich das gar nicht. Ich hatte keinen Bock darauf.» Sie habe einfach angehalten und im selben Moment gewusst, dass das vielleicht nicht so schlau gewesen sei. «So etwas tut nur jemand Verwöhntes, trotzdem bin ich okay damit.» Nun brauche sie ein bisschen Abstand, um wieder hungrig zu werden. «Der Hunger kommt wieder, da bin ich mir sicher.»
Eigentlich stünde die Schweizerin am Sonntag beim Strassenrennen am Start. Ob sie das tatsächlich tun wird, weiss sie noch nicht. Sie wolle jetzt erst mal etwas essen – und schlafen.
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