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Meinung

Kolumne von Milo Rau
Warum ich das Theater liebe

«Theater ist eine archaische Kunst»: Ursina Lardi in Milo Raus «Everywoman» an den Salzburger Festspielen. 
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Einmal sah ich an der Berliner Volksbühne einen Monolog. Die Hauptrolle wurde von einem Schauspieler gespielt, der seit Urzeiten im Ensemble war, aber seit über zehn Jahren keine einzige Rolle mehr bekommen hatte. In der letzten Vorstellung blieb er plötzlich mitten auf der Bühne stehen. Er hatte die ganze Zeit ohne Pause gesprochen, aber jetzt blieb er stehen und sah sich um. Es wurde still, für eine gefühlt sehr lange Zeit. Und dann hob dieser Schauspieler den Finger, als ob er etwas sagen wollte, öffnete eine Bodenklappe und sprang hinein. Er war weg und blieb weg, denn am nächsten Tag wurde er pensioniert.

Ein anderes Mal kam eine Bäuerin auf die Bühne, es war im Ostkongo. Das geschah im Rahmen des «Kongo Tribunals», das wir dort gegen eine Minenfirma organisierten. Die Bäuerin war wie ihr ganzes Dorf auf einen windigen Berg deportiert worden. Ihre Familie hatte sich zerstreut, ihre Ziegen hatten aus einem mit Zyanid verseuchten See neben der Mine getrunken und waren gestorben. Die Bäuerin erzählte all dies, und während sie sprach, ging unmerklich die Zeit vergessen. Also begann sie, über ihre Träume zu sprechen. Dass sie in ihr Dorf zurückkehren wollte. Wie viele Zimmer ihr wieder aufgebautes Haus hätte, für jedes ihrer Kinder eines. Wie wir später sahen, dauerte ihr Auftritt mehr als eine Stunde. Ein Saal mit 1000 Menschen hatte ihr gebannt zugehört.

Was auf der Bühne schiefgeht, wird Wirklichkeit.

Seit zwei Wochen ist mein belgisches Theater geschlossen, meine Stücke werden nicht mehr gespielt. Warum aber liebe ich das Theater? Es sind die kleinen Dinge. Ich mag es, wie Laiendarsteller auf die Bühne kommen: ihre erst zögerliche, dann entspannte Anwesenheit. Ich mag Bühnentechnik, ich mag falschen Regen und falschen Wind. Ich schaue Schauspielern gern bei Aufwärmproben zu: ihre totale Beherrschung von Form und Gefühl. Ich mag lange Monologe und langes Schweigen. Ich liebe es, wie gewisse Menschen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Aber noch mehr liebe ich die, die es verstehen, vor meinen Augen aus reinem Willen fast unsichtbar zu werden.

Im Theater kann man nicht tricksen, das Publikum sieht immer alles, in Echtzeit. Es ist eine ganz andere Arbeit als das Filmen. Die Zeit vergeht auf der Bühne gleichförmig, wie an jedem beliebigen Tag. Alles ist absolut da und sichtbar, wie in einem Wartesaal, hartnäckig. Das Theater ist eine archaische Kunst: Man kann nicht schneiden, es gibt keine Postproduktion. Was schiefgeht, wird Wirklichkeit. Ein Sieg der Menschlichkeit wie bei der Rede der Bäuerin oder bei dem Schauspieler, der plötzlich den Auftritt seines Lebens hat, interessiert mich deshalb im Theater mehr als im Film.

Was noch? Meine Lieblingsschauspielerin, Ursina Lardi, erzählte mir einmal folgende Szene: Ein Schauspieler, eine verzweifelte Tschechow-Figur, erschiesst sich hinter der Bühne. Nach einiger Zeit taucht er wieder auf, geht blutverschmiert zur Rampe. Ist er ein Gespenst? Muss man sich fürchten vor ihm? Man weiss es nicht. Aber dann lacht er und verbeugt sich.

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