Kolumne von Milo RauRede an die Nation
Heute früh trat die Schweizer Bundespräsidentin vor die Presse. Wir dokumentieren hier ihre Rede in Deutsch.
Sehr geehrte Damen und Herren,
gestern war Halloween. Das irische, mit den Auswanderern in die USA emigrierte Fest, bei dem wir alle uns als Gruselgestalten verkleiden und auf die Jagd nach Süssigkeiten gehen, war noch fast unbekannt, als ich ein Kind war. Heute ist es bei uns so heimisch wie sonst nur Weihnachten. Wie jedes Jahr fragte ich mich: Als was soll ich gehen? Wie üblich als Vampir, als Skelett oder gar als gerade hingerichtete Marie-Antoinette?
Ich wählte das Kleid der Mutter Tod. Denn wie Sie alle wissen, ist die Schweiz ein Hotspot in der globalen Corona-Pandemie. Und Halloween, das Fest der Toten, passt besser in unsere Zeit, als uns lieb sein kann.
Wir sind das reichste Land Europas mit einem der besten Gesundheitssysteme der Welt. Trotzdem sind nur
in Chaos-Staaten wie Belgien oder Brasilien die Ansteckungszahlen höher. Woran liegt das?
Es liegt am Versagen der Regierung. Es liegt daran, dass wir aufgrund kindischer Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Kantonen bisher unfähig waren, auf die Pandemie angemessen zu reagieren. Ich glaube aber, es gibt noch einen weiteren Grund, der tiefer liegt. Sogar tiefer als der Egoismus jener Leute, die sich weigern, eine Maske zu tragen oder die Abstandsregeln einzuhalten.
Wir sind das reichste Land Europas mit einem der besten Gesundheitssysteme der Welt. Trotzdem sind nur in Chaos-Staaten wie Belgien oder Brasilien
die Ansteckungszahlen höher.
Dieser Grund ist: Wir fokussieren als Eidgenossenschaft nicht auf das Wesentliche. Was ist aber das Wesentliche? Das Wesentliche ist die Kunst. Unsere Kultureinrichtungen sind durch hervorragende Hygienekonzepte sicherer als alle anderen Orte. Bisher hat sich keine einzige Person in einem öffentlichen Theater angesteckt. Schauen Sie sich deshalb Tanz und Theater an, geniessen Sie Konzerte und gehen Sie ins Museum. Und nehmen Sie Ihre Kinder mit. Denn Kunst ist nicht nur sicher, sie gibt auch Raum für Diskussion, für Gemeinschaft, fürs Nachdenken. Kunst ist gelebte Demokratie. Sie ist Ausdruck von Humanität. Gesundheit und Kunst stehen nicht im Widerspruch. Sie sind das Gleiche.
Es mag sein, dass Sie diese Worte von einer Bundespräsidentin nicht erwartet haben. Aber wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Wir alle möchten, dass die Schweiz diese Krise meistert. Wo könnten wir das besser als im Theater, wo wir gemeinsam sind und doch jede und jeder für sich allein? Ich verfüge deshalb, dass wir alle, gleichgültig welchen Alters, zweimal pro Woche ins Theater gehen, einmal ins Museum und einmal an ein Konzert. Ob Avantgarde oder Klassik, überlasse ich Ihnen. Ich selbst werde mir heute Abend im Schaupielhaus Zürich das Jugend-Stück «Frühlings Erwachen» anschauen.
Ich weiss, dass wir uns damit, wie so oft, von den Entschlüssen unserer Nachbarländer unterscheiden – wie etwa Deutschland, wo alle Kultureinrichtungen ab Montag geschlossen werden. Aber schon immer waren wir im Alleingang am stärksten und auch am entspanntesten.
Auf dass ich nächstes Jahr wieder, wie üblich, als Vampir von Tür zu Tür gehen kann – mit dem Ruf auf den Lippen: Süsses oder Saures!
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