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Meinung

Kolumne von Milo Rau
Die Schrecken der Quiche

Von den einen heiss geliebt, von anderen gehasst: Die französische Spezialität Quiche.
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Gestern Abend feierte in Paris mein Stück «Familie» französische Premiere. Es beruht auf einem mysteriösen Fall, der sich vor etwas mehr als zehn Jahren in Calais an der Kanalküste ereignet hatte. Eine Familie erhängte sich damals, ohne dass es dafür einen erkennbaren Grund gab: keine wirtschaftlichen Probleme, keine Krankheit, kein Familienzwist. Auf dem Tisch fanden die Feuerwehrleute, die das Haus aufbrachen, einen Zettel: «Wir haben es vermasselt, sorry.»

Am Anfang des Stücks zählen die Schauspieler – es handelt sich um eine echte Familie – ihre Lieblingsdinge auf: Musikstücke, ein kühles Haus im Sommer, der Geruch der Erde nach dem Regen, bestimmte Rezepte. Manchmal gibt es dafür biografische Gründe, etwa weil man einen Song in einer besonders glücklichen Lebensphase oft gehört hat. Meistens aber fühlen wir uns einfach grundlos von etwas angesprochen. «Familie» handelt von den Dingen, die das Leben lebenswert machen. Und dass es eben manchmal doch nicht reicht.

Weil dieses Wochenende in Gent mein eigenes Theater Saisoneröffnung feiert, konnte ich nicht nach Paris. Immerhin, dachte ich mir, gehe ich in ein französisches Lokal. Als ich es betrat, sah ich in der Vitrine eine Quiche. Sofort überkam mich eine instinktive Abneigung. Völlig grundlos: In dem Milieu, aus dem ich komme, wird der Quiche seit jeher ein würdiger, aber nicht aufdringlicher Platz eingeräumt. Als ich klein war, galt sie als etwas Besonderes, aber sie war nie als elitär verschrien. Und ein paarmal habe ich mich sogar selbst als Quiche-Bäcker versucht.

Die meisten Menschen fürchten Cellos, da diese seit Generationen
auf Schweizer Kleinkunstbühnen ihr Unwesen treiben.

Kurzum: Viele angenehme, sogar schöne Dinge verbinde ich mit der Quiche. Und trotzdem hasse ich sie. Warum? Ich weiss es nicht. Es ist wie mit der Bratsche. Als ich letzte Woche Musiker-Castings machte, war ich schon genervt, wenn ich nur sah, wie eine Bratsche aus dem Koffer genommen wurde. Noch genervter war ich, wurde sie unter den Hals geklemmt. Dagegen überkam mich sofort tiefe Sympathie, wenn sich jemand hinter ein Cello setzte. Ich weiss, dass die meisten Menschen Cellos fürchten, da diese seit Generationen auf Schweizer Kleinkunstbühnen ihr Unwesen treiben. Ich aber ziehe sie den Bratschen vor.

Es gibt vieles, was mich nervt: SUVs oder Rentnergruppen auf lauten Motorrädern zum Beispiel. Aber hier kann ich mir meine Abneigung objektiv erklären. Die Mischung aus Spiessertum und Selbstgerechtigkeit, der dümmliche Egoismus der Fahrer, die ganze Landstriche mit ihrem Lärm belästigen und zuparkieren, ist abstossend. Die Quiche und die Bratsche dagegen gehören zu einer Lebensweise, die ich bewundere. Stil, Kunstfertigkeit, Sinn für den Moment, auch Zurückhaltung – das sind alles Werte, die man gemeinhin mit der Quiche und der Bratsche verbindet.

So sind die meisten unserer Abneigungen wie unserer Zuneigungen vor allem eines: mysteriös und ungerecht. Eine Welt ohne Bratschen und Quiches wäre ärmer. Aber ich könnte ganz gut in ihr leben.

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