Interview zur neuen KriminalstatistikWarum gibt es in der Schweiz plötzlich mehr schwere Gewaltdelikte?
Mehr Vergewaltigungen, mehr schwere Körperverletzungen: Die neusten Zahlen zur Kriminalität im Land beunruhigen die Behörden. Kriminologe Dirk Baier ordnet ein.
Welche Gründe gibt es für die Häufung schwerer Körperverletzungen, Herr Baier?
Was auffällt: Bei schweren Körperverletzungen sind es insbesondere solche, die mit Stichwaffen verübt wurden. Die bereits bekannte Messerthematik bleibt also aktuell und akzentuiert sich. Es handelt sich bei den Tätern nicht allein um Jugendliche; bei ihnen waren diese Straftaten 2022 sogar leicht rückläufig. Es handelt sich gemäss Statistik also auch um Erwachsene, die mit Messern nach draussen gehen. Im Konfliktfall werden die schnell gezogen.
Eine beachtliche Zunahme weist die Polizeistatistik auch bei den Fällen von Vergewaltigung auf.
Hier sticht der Kontext mit der häuslichen Gewalt ins Auge. Vergewaltigung ist ein Anzeigedelikt. Es ist davon auszugehen, dass sich immer mehr Opfer an die Polizei wenden. Ich nehme an, dass Sensibilisierungsmassnahmen die Opfer vermehrt zum Sprechen bringen. Opfer, also vergewaltigte Frauen, scheinen vermehrt den Mut aufzubringen, zur Polizei zu gehen und Vergewaltiger anzuzeigen.
Im Vergleich der letzten zehn Jahre haben wir es heute zweifellos mit sehr hohen Zahlen zu tun – bei den schweren Gewaltdelikten, aber auch bei den Vergewaltigungen.
Also hat die Zahl Vergewaltigungen nicht zugenommen, die Zahl der Anzeigen aber schon?
Ich schliesse das nicht aus. Wir haben es hier wohl mit einer Aufhellung eines Dunkelbereichs zu tun, da Anzeigen aus dem häuslichen Bereich geringer ausfallen als bei anderen Delikten. Bei sexuellen Straftaten im häuslichen Bereich verzeichnen wir eine besonders geringe Anzeigequote. Offenbar schafft es die Gesellschaft nun mit Aufklärungs- und Sensibilisierungsmassnahmen, die Opfer zum Sprechen zu bringen.
Wie aussagekräftig ist die beachtliche Zunahme schwerer Gewaltdelikte nach den vergangenen Corona-Jahren im Langzeitvergleich?
Im Ausland zeigt sich der Corona-Effekt viel stärker als in der Schweiz. Hierzulande kann man also nicht sagen, wir holen jetzt auf, was in den Corona-Jahren ausgeblieben ist. Die jetzigen Statistiken reichen zurück bis 2009. Im vorhandenen Zeitraum weist die aktuelle Statistik bei den schweren Gewalttaten Höchstwerte aus. Allerdings gehe ich davon aus, dass in den 1990ern die Zahlen mutmasslich noch höher waren als 2022 und es heute insgesamt friedlicher zugeht als noch vor 20 oder 30 Jahren. Über die notwendigen Zahlen dazu verfügen wir allerdings nicht. Im Vergleich der letzten zehn Jahre haben wir es heute zweifellos mit sehr hohen Zahlen zu tun – bei den schweren Gewaltdelikten, aber auch bei den Vergewaltigungen.
Weshalb schlägt und sticht man heute schneller zu?
Im Vergleich zum vorletzten Jahr mit Corona gab es 2022 wieder ein komplett normales Freizeitverhalten. Man ist mehr draussen und öfter unterwegs. Das äussert sich übrigens auch bei den häufigeren Einbruchsdiebstählen. Diese werden dann verübt, wenn Täter davon ausgehen können, dass niemand zu Hause ist. Dass es beim normalen Freizeitverhalten mit Alkoholkonsum und Gruppenbildungen vermehrt zu Konflikten kommt, zeigt sich übrigens auch bei den leichten Körperverletzungen ohne Messer, deren Zahl ebenfalls zugenommen hat.
Wird unsere Gesellschaft gewaltbereiter, wie dies etwa der oberste Polizeikommandant des Landes vermutet?
Das würde ich so nicht sagen, denn bei den meisten Gewalttätern handelt es sich nicht um die sozial stärksten. Bei sozial Schwachen ist das Explosionspotenzial eher vorhanden, bei gewissen Subgruppen sozial Schwacher sind Gewaltdelikte eher in Mode als bei anderen.
Sie sprechen von bestimmten Ausländergruppen?
Nicht nur. Das wäre verkürzt. Es kommt zu vermehrten Gewalttaten bei Schweizern wie bei Ausländern. Gleichzeitig gilt weiterhin, dass Personen ausländischer Herkunft häufiger gewalttätig werden. Junge Männer aus Nordafrika oder Afghanistan sind höher belastet. Dies hat Gründe: Sie sind oft nicht arbeitstätig und wohnen in Gemeinschaftsunterkünften. Es würde mich aber sehr wundern, wäre der Anstieg in der aktuellen Kriminalstatistik alleine auf Ausländer zurückzuführen.
2010 haben Volk und Stände die Ausschaffungsinitiative der SVP angenommen. Hatte sie keine abschreckende Wirkung?
Die Erwartung, mit harten Gesetzen Menschen von Straftaten abzuhalten, erfüllt sich in den meisten Fällen nicht. Das ist empirisch belegbar. Es wundert mich deshalb nicht, dass sich dies nicht niederschlägt. Wenn man kriminell wird, hat man das Gesetz nicht im Kopf. Straftaten haben mehr mit dem sozialen Milieu zu tun, aus dem man kommt. Die Entstehung von Kriminalität ist viel komplexer als die Antwort auf die Frage, welche Strafen mich erwarten, wenn ich kriminell werde.
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