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Mamablog: Erfahrungsbericht einer Betroffenen
Warum es Helikoptermütter gibt

Beschützerinstinkt trifft auf Leistungsgesellschaft: Sich dem Normdruck des Systems zu widersetzen, braucht unendlich viel Kraft.
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So. Heute will ich klagen und anklagen. Ich möchte meiner Wut Luft machen. Meiner Wut über unsere Leistungsgesellschaft, über Gesellschaftsnormen und über Menschen, die sich erlauben, sogenannte Helikoptermütter zu verurteilen, ohne sich jemals gefragt zu haben, was diese Mütter dazu veranlasst, in einen Helikopter zu steigen und zu steuern.

Ich versuche nun, unsere Geschichte, die bald ein Buch füllen würde, in Blog-Grösse zu verfassen. Ich schreibe bewusst aus meiner Sicht, in der Ich-Form und klammere andere wichtige Protagonisten wie meinen Mann hier aus.

Es war einmal ein zartbesaitetes Mädchen

Da war einmal ein kleines, zartbesaitetes Mädchen, welches mit grossen Augen skeptisch in die Welt hinausblickte. Ein ruhiges und nachdenkliches Kind. Bald schon hörte dieses Kind Sätze wie: «Wieso bisch eso schüüch?» oder «Warum seisch nüt?», «Bisch immer so ruhig?». Die Mutter dieses Kindes – das bin ich – hasste diese Bewertungen. Doch da ich meinem Kind helfen und seine Schüchternheit ausmerzen wollte, begann ich ebenfalls zu «korrigieren» und pushen. Ein Fehler, wie mir heute bewusst wird. Doch in unserer Gesellschaft haben ruhige und introvertierte Personen einen schweren Stand. Diese Tugenden sind in unserer lauten Ellenbogengesellschaft nicht mehr gefragt. Meine Tochter lernte früh: So wie ich bin, bin ich nicht richtig. Ich bin anders als die andern.

Ich entschied mich für die zweite Variante und begann erstmals einen Helikopter zu chartern.

Dieses Mädchen kam in die Schule. Die Schule interessierte sie nicht. Buchstaben und Zahlen, nicht ihre Welt. Dieses Mädchen besass andere Fähigkeiten und Interessen, aber das ist jetzt hier nicht relevant. Schon bald kam die Schule auf mich zu mit den Worten, meine Tochter hätte grosse Mühe mit der Konzentration und dem Schulstoff, allen voran in Mathematik. Und dann begannen die Abklärungen, integrierte Förderung und externe Therapien (die allesamt nichts brachten, da zu wenig Zeit und Ressourcen). Was meine Tochter in der Schule schon früh und fürs Leben lernte, war: Ich kann das nicht, ich tschägge es nicht, ich bin auf Hilfe angewiesen. Ich hatte nun die Wahl – überlasse ich meine Tochter sich selbst und gebe an die Schule ab, oder übernehme ich Verantwortung, wie ich es als Mutter ohnehin tue, und setze mich ein. Ich entschied mich für die zweite Variante und begann erstmals einen Helikopter zu chartern.

Schutz- und Rettungshelikopter

Dieser Helikopter diente der Überwachung und war zuständig für Schutz und Rettung. Neun Jahre lang bestand meine Aufgabe darin, das starke Kaffeepulver – die Anforderungen der Schule und den Schulstoff – zu filtern und den Trunk, der unten rauskam, löffelchenweise an meine Tochter zu verabreichen. Mit sehr viel Fingerspitzengefühl notabene und darauf bedacht, dass sie nicht in der ersten Minute schon aus dem Fenster springen wollte und ich hinterher. Ich versuchte es streng und unnachgiebig, ich versuchte es spielerisch, ich versuchte es humorvoll, ich versuchte es ruhig und gelassen, ich versuchte es locker vom Hocker. Ich war eine sehr kreative und unkonventionelle Lehrerin. Trotzdem gab es unzählige Male Tränen, Streit und geschletzte Türen. Und ich begann immer öfters, meiner Tochter die Schulbürde abzunehmen. Das war natürlich ein Fehler.

Aber auch ohne Helikopter besass ich Weitblick, sah die Zukunft meiner Tochter vor mir. Was war für den Start ins Berufsleben besser: Ein Zeugnis mit Dreien und Vieren oder ein gutes Zeugnis, welches unsere – insbesondere meine – ganze Kraft forderte, dafür aber vorzeigbar und mit der Chance auf Erfolg im Lehrstellenmarkt? Ich konnte und wollte meine Tochter nicht herumschlittern und reinrasseln lassen. Unsere Leistungsgesellschaft gibt eine andere Marschrichtung vor. Und wir wissen alle, wie hoch die Anforderungen an Schulabgänger heutzutage sind. Nun, die Zeugnisse waren gut und die Kreuze für Verhalten etc. am richtigen Ort. Aber das Resultat war ein anderes.

Blockaden, Ängste und psychische Probleme

Meine Tochter – inzwischen eine wunderhübsche junge Frau – hat psychische Probleme, Blockaden und grosse Ängste entwickelt. Ich gehe hart mit mir ins Gericht und weiss, welche Fehler ich gemacht habe. Ich wollte meine Tochter unterstützen und vor der Zäsur unserer Leistungsgesellschaft bestehen. Übrigens startete mein Helikopter nie bei vergessenen Turnsäcken oder Streitigkeiten unter Kolleginnen.

Tagtäglich liest man in den Medien, dass psychologische Anlaufstellen, Psychiatrien und Telefonseelsorgedienste überlastet sind. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Betroffene sein werde. Betroffene Mutter eines Kindes, das psychologische Unterstützung benötigt. Sind wir doch eine hundsnormale, bodenständige nullachtfünfzehn Familie. Ich eine geerdete Frau, mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Doch dieser Boden kann auch denen unter den Füssen weggezogen werden, die scheinbar gefestigt durchs Leben schreiten.

Es gibt Gründe, weshalb immer mehr Jugendliche straucheln, und trotz fehlerfreiem Strickmuster durch die Maschen fallen.

Die Wartezimmer sind voll und die Wartelisten der Psychologinnen noch länger. Was dies bedeutet, erfuhr ich plötzlich selbst. Es ist grausam. Stellen sie sich vor, ihr Kind hat das Bein gebrochen und das Spital teilt ihnen mit, dass in sechs bis acht Wochen ein Spitalbett frei wird und die Ärzte dann Zeit hätten, das Bein wieder zu flicken. In der Zwischenzeit könne das Kind ja mal versuchen, mit Krücken zu gehen – mit gebrochenem Bein! Genau so fühlt es sich an, wenn man wartet. Auf Hilfe wartet. Aber das ist wieder ein anderes Kapitel.

Ich möchte hier abschliessen. Natürlich sind die Gründe für den psychischen Zustand meiner Tochter vielschichtiger und bestimmt gibt es auch nicht DEN Schuldigen oder DIE Schuldige. Auch die Helikoptermutter ist es nicht! So einfach ist es eben nicht. Es gibt Gründe, weshalb immer mehr Jugendliche straucheln, und trotz fehlerfreiem Strickmuster durch die Maschen fallen. Vielleicht gibt es auch Gründe, weshalb immer mehr Helikopter kreisen. Woran krankt es zuerst?

Ein Hinweis an jene, die nun kommentieren, werten und urteilen. Eine Angststörung trifft in der Schweiz jeden 5. Menschen einmal in seinem Leben. Mit oder ohne Pilotenschein.